Zu neuem Leben erweckt
Multi-Talent und Hoffnungsträger | Mercedes-Benz macht den Vito künftig zum Fronttriebler. Dass dies kein Nachteil ist, sondern die Schar an Fans in den Flotten vergrößern könnte, zeigt der exklusive Fahrbericht.
— Dass es hier rein um einen mittelgroßen Transporter geht, glaubt man nur schwer. Statt mehr an Nutzlast trägt der neue Vito, der optisch perfekt zwischen Citan und Sprinter passt, Hoffnungen. Daimler-Chef Dieter Zetsche, der früher selbst an der Entwicklung des Stuttgarter Alleskönners mitwirkte, ließ persönlich den Herausforderer für den VW Transporter erstmals vorfahren.
Der erste Eindruck: Zwar profitiert der Kunde im Frachtraum wenig vom Längenzuwachs (+14 Zentimeter), denn das Ladevolumen bleibt im Wesentlichen gleich, aber nun gibt es den Schwaben auch mit Frontantrieb (mit 88 PS und 114 PS).
Günstiger Einstieg | Die im Vergleich zum bisherigen Hecktriebler (den sich in Reinform nun nur noch Hyundai im Segment gönnt) leichtere Antriebsvariante (der Heckantrieb kostet 60 Kilogramm Nutzlast) rollt im Spar-Modell „Worker“ für 17.990 Euro vor. Zum Vergleich: Der VW Transporter mit Fünfganghandschalter und 2,0-Liter-Motor (84 PS) kostet für Gewerbekunden laut Liste 22.275 Euro. Prompt soll der Vorderradler bald die Hälfte des Absatzes ausmachen.
Sein Geheimnis teilt er mit der C-Klasse, denn aus dieser stammt der 1,6-Liter-Diesel, der nun quer statt längs eingebaut wird. Was Platz und Gewicht spart – der Vito wird im Vergleich zum Vorgänger (mit Hinterradantrieb) um 120 Kilogramm leichter. Die größte Fuhre (1.369 Kilogramm) stemmt theoretisch der 3,2-Tonner mit Heckantrieb.
Ein weiteres treffliches Argument für den nach dem Sprinter zweiten Welt-Transporter mit Stern, der künftig auch in Nord- und Lateinamerika zu haben sein wird, soll der Verbrauch sein: 5,7 Liter verspricht Daimler für den zweitstärksten Hecktriebler (163 PS) samt 495 Euro teurem BlueEfficiency-Paket, das es im Top-Diesel (119 BlueTec) und in der neuen Pkw-Version „Tourer“ in Kombination mit der Siebengang-Automatik serienmäßig gibt. Die neu abgestimmte 7G-Tronic gibt es nur für die Hecktriebler (2,1-Liter-Motor mit 136, 163 oder 190 PS) als Option (2.100 Euro Aufpreis) beziehungsweise im Top-Diesel aufpreisfrei. So weit zur Theorie. Ein erster exklusiver Ausflug mit dem Stuttgarter zeigt seine Stärken und Schwächen.
Kultivierter Kleiner | Der klassische Vito mit Heckantrieb könnte künftig einen schweren Stand haben. Der 1,6-Liter-Motor, der im Wesentlichen vom Partner Renault stammt, geht extrem leise und geschmeidig zu Werke. Der 114-PS-Motor im 111 CDI dreht, wenn es sein muss, sehr willig hoch und bleibt anders als das rauere 2,1-Liter-Mercedes-Aggregat dabei tadellos kultiviert.
Selbst niedrigste Drehzahlen beim Durchzuckeln von Ortschaften entlocken dem elastischen Common-Railer kein Brummen, wo der 2,1-Liter sich knorriger gibt. Der fahrwerkseitig spürbar feingeschliffene Vito rollt leise ab, neigt auch bei Schlaglöchern nicht zum Trampeln und gefällt mit geringem Windverfang an der aerodynamisch geglätteten Karosserie. Die lange Auslegung des jetzt leichter und weniger sperrig schaltbaren Sechsganggetriebes sorgt zwar für gebremstes Temperament, aber optimierte Autobahnverbräuche: Auf exakt der gleichen 50-Kilometer-Strecke mit kurzem Autobahnanteil und viel Überlandbetrieb wies der Bordcomputer für den 111er 6,9 Liter aus im Vergleich zu 7,2 Liter beim 116 CDI. Die auf 94 Kilometer fortgesetzte, moderate Landstraßentour im 111er-Modell senkte den Verbrauch auf durchschnittliche 6,5 Liter. Traktionsprobleme ließen sich beim Fronttriebler auch beladen nicht feststellen. Dass die wuchtigen Portale wie die Schiebetür so satt ins Schloss fallen, die Motorhaube von einem starken Arm in die Höhe gewuchtet werden will, auch Kanaldeckel die Karosserie nicht in Verlegenheit bringen und die Armaturen sich kein Knistern entlocken lassen, all das fordert seinen Tribut: 2.040 Kilo wies der Fahrzeugschein für den gut ausgestatteten 116er-L2-Kastenwagen aus, 2.055 Kilo waren es beim 111er-Mixto. Mit der erstmals in einem Transporter eingebauten, geschwindigkeitsabhängig arbeitenden elektromechanischen Servolenkung steuert sich der Vito aber stets locker und gefühlvoll.
Spürbare Vorteile erfährt sich der Hecktriebler beim Wendekreis, wo er dem Fronttriebler knapp einen Meter abknöpft – das merkt man beim Wenden deutlich. Dennoch: Wer nicht ständig voll beladen auf der Autobahn oder mit Anhänger unterwegs ist, für den passt der neue Fronttriebler.
Allrad-Aufpreis | Indes gilt für alle: Maximal 2.500 Kilogramm können Versionen mit Automatikgetriebe ziehen, sonst sind es 2.000 Kilogramm Anhängelast. Wer den Nord-Spanier (gefertigt wird er im baskischen Vitoria) zum Vierfüßler aufrüsten will, zahlt 3.300 Euro. Auf ein Hochdach müssen die Kunden allerdings verzichten – zu gering war die Nachfrage. Ab Werk gibt es aber neben dem direkten Reifendruckkontrollsystem den Attention-Assist sowie den schon im Sprinter beeindruckenden Seitenwind-Helfer. Auch der Service spricht für das Vito-Revival. Statt wie bisher alle 30.000 Kilometer (oder zwei Jahre) sollen die Display-Empfehlungen frühestens bei 40.000 Kilometern (je nach Berechnungen des Assyst-Systems auch bis zu 45.000 Kilometer) zum Werkstattstopp aufrufen.
„Erfolge machen hungrig“, gesteht Dieter Zetsche bei der Premiere. Der Vito-Hunger könnte auch in den Flotten deutlich wachsen. | Johannes Reichel, Rocco Swantusch
- Ausgabe 9/2014 Seite 36 (4.8 MB, PDF)