Von Benjamin Bessinger/sp-x
Sie ist die mit Abstand wichtigste Mercedes-Premiere im nächsten Jahr und will deshalb entsprechend zelebriert werden: Um die Welt schon mal so langsam auf das Messedebüt der neuen E-Klasse im Januar in Detroit und die Markteinführung im April einzustimmen, lüften die Schwaben jetzt schon mal ein wenig den Schleier der Business-Limousine.
Zum Design machen sie dabei noch nicht viele Worte und geben bislang nur Fotos von getarnten Prototypen heraus. Während man den längeren Radstand und die kürzeren Überhänge sowie die stilistische Melange aus C- und S-Klasse deshalb nur erahnen kann und das revolutionäre Cinemascope-Cockpit mit zwei riesigen Bildschirmen und Grafiken von ungeahnter Brillanz oder die Ambientebeleuchtung mit 64 Farben zwar anschauen, aber noch nicht zeigen darf, plaudert Chef-Ingenieur Michael Kelz über die Technik dagegen schon ziemlich freizügig – vor allem über die Assistenzsysteme.
E wie Entspannung gibt er als Marschrichtung vor und der neuen Modellreihe mehr Richtlinienkompetenz, als die Polizei erlaubt. In der Theorie arbeitet der neue Drive Pilot mit Stereokamera und Radarsensoren bei Geschwindigkeiten von 0 bis 210 km/h auf der Autobahn so zuverlässig, dass Kelz bei der Abnahmefahrt zwischen Los Angeles und Las Vegas die Hände oft Minutenlang im Schoss lassen kann – weit geschwungene Kurven, Baustellen ohne Fahrbahnmarkierungen und Geschwindigkeitsbegrenzungen inklusive. Selbst überholen kann die E-Klasse automatisch, wenn Kelz kurz den Blinker antippt.
In der Praxis muss er freilich trotzdem immer mal wieder kurz einen der Schalter am Lenkrad antippen, sondern schlägt die Limousine immer lauter Alarm und bremst irgendwann auf null herunter. "Trotzdem fühlt man sich nach ein paar hundert Kilometern frisch wie beim Start", sagt sein Versuchschef Hubert Schneider, der großen Teil der bislang zwölf Millionen Testkilometer selbst gefahren ist. Dabei helfen auch die neuen Sitze, die schlanker aber bequemer sind als in der S-Klasse und vor allem noch mehr Massagefunktionen bieten, die komfortablere Auslegung des Fahrwerks im Grundmodus, die etwas größere Beinfreiheit im Fond und vor allem das hörbar reduzierte Geräuschniveau an Bord. Selbst bei hohem Tempo auf rauem Asphalt spricht Kelz nur im Flüsterton – und jeder an Bord kann ihn hören.
Serienauto mit Car-to-Car-Kommunikation
Neben dem Komfort geht es Kelz bei der E-Klasse auch um Connectivity. Die Baureihe W213 sei deshalb das erste Serienauto mit Car-to-Car-Kommunikation, das andere Fahrzeuge in der unmittelbaren Umgebung über einen Server vor drohenden Gefahren warnt. Es ist bei entsprechender Ausstattung natürlich "always on" und integriert das Smartphone so gründlich, dass man künftig sogar den Zündschlüssel daheim lassen und den Wagen mit dem Handy starten kann. Außerdem gibt es ein App, mit der man die E-Klasse in die Garage rangiert, während man noch draußen im Hof steht.
Bei so viel neuen Gadgets geraten die konventionellen Gewerke fast ein wenig ins Hintertreffen. Dabei hat Mercedes auch am Rohbau gearbeitet, bis zu 70 Kilo eingespart und für das Debüt der E-Klasse einen neuen Diesel entwickelt. Der Vierzylinder-Block aus Aluminium hat zwei Liter Hubraum, kommt zum Start im E220d auf 190 PS und 400 Nm und spielt zumindest in Europa die wichtigste Rolle. Trotzdem offeriert Daimler zum Verkaufsbeginn parallel noch einen E 200 mit 184 PS. Später folgen kleinere Motoren, mit denen der Verbrauch im besten Fall auf knapp vier Liter sinken soll, und größere Triebwerke bis hin zum um die 600 PS starken V8 für den AMG E 63, für den Entspannung vielleicht kein ganz so großes Thema ist. Außerdem hat Kelz noch eine Erdgasumrüstung sowie Plug-In-Module für Diesel und Benziner und langfristig einen 48-Volt-Hybrid in Petto. Und klar: Allrad-Versionen wird es auch wieder geben.
Technologierträger
Sonst noch was, Herr Kelz? Wenn man den Chefingenieur fragt, könnte er auf der ganzen Fahrt von Los Angeles nach Las Vegas drauflos erzählen. Denn erstens kümmert sich um den Verkehr ja der Drive Pilot, und zweitens sticht die Limousine als Technologierträger glatt die jetzt auch schon wieder drei Jahre alte S-Klasse aus. Led-Scheinwerfer und Pixel-Licht, zwei Fahrwerke mit Stahl- und eines mit Luftfederung, Assistenten, die Fußgängern automatisch ausweichen, Nothelfer, die bei einem Aufprall sogar das Gehör schützen, fünf Fahrprogramme mit mehr Spreizung als je zuvor – wenn Kelz auf dem Weg nach Los Angeles alles loswerden will, muss er entweder schneller reden oder langsamer fahren.
Am Ende der Abnahmefahrt kann sich der Chefingenieur dafür genauso entspannt zurücklehnen wie die kommenden Kunden und gelassen zur Weltpremiere nach Detroit fahren. Doch so groß die beruhigende Wirkung der E-Klasse auch sein mag, hat sie auch das Zeug zu einem gewaltigen Stressfaktor – für die Konkurrenz in München und Ingolstadt. Dort werden sie für die bevorstehenden Nachfolger von Fünfer BMW und Audi A6 ordentlich nachlegen müssen, wenn sie Kelz aus der Ruhe bringen wollen.