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Urwahn: Stahl ist erste Wahl

14.03.2023 06:00 Uhr | Lesezeit: 4 min
Urwahn nutzt 3D-Technik für den Fahrradbau - Autoflotte Redakteur Rocco Swantusch ist eine Runde gefahren.
© Foto: Michael Blumenstein/Autoflotte

Urwahn revolutioniert den Fahrradbau und lässt 3D-Technik in den Rahmenbau einfließen. Das Magdeburger Unternehmen ist damit einzigartig und fertigt ganz nebenbei wunderbare Zweiräder.

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Als ich in den 1980ern Radrennen fuhr, gab es nicht viel Schnickschnack - auch im Westen nicht. Stahlrahmen waren gesetzt (ja, Alan gab es bereits), Shimano-Komponenten waren üblich. Die Crème de la Crème fuhr Campagnolo und ein paar Verrückte Suntour. Es war die Zeit der Ledersturzringe. Am Rennrad verschwanden gerade die Bremskabel unters Lenkerband und die Hakenpedale wurden von Klickpedalen abgelöst. Alles kleine Revolutionen. Eine große bekam die Welt bei der Olympiade 1988 in Seoul zu Gesicht. Die DDR-Combo trat zum Mannschaftszeitfahren mit Maschinen an, die aus einer anderen Galaxy kamen: FES prangte am Oberrohr der schwarzen, aerodynamisch geformten Karbonrahmen. Material und Design waren stilprägend für das Karbon-Rennrad.

Doch Karbon ist nicht das einzige Material im Fahrradbau, das durchgehalten hat. Alu gibt es heute bis in die billigsten Segmente. Am anderen Ende der Skala rangiert der Titanrahmen, nach wie vor für solvente Fans eine schöne Geldausgabe. Und Stahl? Stahl gab es immer und wird es immer geben - und zwar in sämtlichen Ausführungen, Qualitäten, Preisklassen und für jegliche Einsatzzwecke. Immer mehr Manufakturen bauen den individuellsten, tollsten, leichtesten, stabilsten, schönsten, nachhaltigsten oder sonst einen extraordinären Stahlrahmen. Urwahn gehört dazu und macht doch alles anders.


Urwahn Fahrräder

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Urwahns Reise

Urwahn ist ein Magdeburger Fahrradhersteller. Den Gründer, Ideengeber, Designer und Konstrukteur, Sebastian Meinecke, trafen wir im Showroom, Studio, Atelier, Entwicklungszentrum samt Manufaktur, wie er seine Wirkräume selbst beschreibt. Der 34-Jährige war noch nicht immer "Bike-Geek", wie er sich jetzt selbst sieht. Der Auslöser war sein Studium. "Im Kern bin ich Sportingenieur." Sportingenieur beschreibt er als Twist zwischen Sportwissenschaft und Maschinenbau. Doch das alleine reichte ihm nicht, denn er war und ist designverliebt. IDE - Integrated Design Engineering nennt sich ein eher unbekannter Studiengang, der in Magdeburg angeboten wird.

Für seine Bachelorarbeit suchte Meinecke nach einem passenden Thema und "stolperte" über das ortsansässige Unternehmen Schindelhauer, das seit 2009 optisch sehr schlichte Bikes herstellt und mittlerweile nach Berlin übersiedelte. "Bei Schindelhauer habe ich dann meine Bachelorarbeit geschrieben. Das war noch ziemlich sportwissenschaftlich, mit Prüfstandbau und Wirkungsgrad des Zahnriemenantriebs messen etc. Sehr maschinenbaulastig", wie Meinecke es beschreibt. Genau da aber sah er, dass großes Potenzial in puristisch anmutenden Fahrrädern liegt - gerade in Kombination mit dem Riemenantrieb. "Mich hat diese Einfachheit total begeistert." Verständlich, ist der Riemenantrieb mittlerweile zwar noch immer teuer, aber wegen seiner Unkompliziertheit und Langlebigkeit oft erste Wahl.

2013 ging es mit einer Idee los. "Damals kam der 3D-Druck gerade auf", erinnert er sich, "und da bin ich irgendwie reingerutscht und habe versucht, die neue Technologie mit meinen Interessen für die Produktentwicklung und Mobilität in Einklang zu bringen." Dass er das Fahrrad nicht neu erfinden würde, war ihm klar. Aber mit einem "disruptiven" Ansatz könnte man das "zukünftige Urban Bike" doch mal neu denken. So entstand die Ein-Mann-Werkstatt im eigenen Keller. Einzelne Kundenanfragen, die mit dem Wunsch nach puristischen Fahrrädern auf ihn zukamen, setzte er um. "Ich habe mit den unterschiedlichsten Materialien, Anbauteilen und Einsatzgebieten experimentiert. Mit wachsendem Portfolio wurde mir schnell bewusst, dass sich aus den unterschiedlichen Kundenanforderungen wie Größe, Design, Gewicht, männlich, weiblich usw. für mich vier Leitsäulen ergaben. Diese prägen die Marke Urwahn Bikes noch immer: Design, Funktionalität, Technologie und Nachhaltigkeit." Und so kam der rote Faden rein. Meineckes Fahrrad sollte so einfach sein, dass jeder es instand halten kann. Es sollte komfortabel sein und sich dennoch direkt fahren. So fiel die Materialwahl des Rahmens auf Stahl unter der Maßgabe einer ästhetischen Anmutung. "Und ich dachte mir: Mit 3D-Druck kann ich das lösen, mit Regionalität dieses und dem Werkstoff Stahl jenes."


Lastenrad Muli PX

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Urwahn: Andere hätten aufgegeben

Zum Studienende, Anfang 2015, wurden das erste Patent und Schutzrechte angemeldet und ein kleines Team aufgebaut. Mit seiner Masterarbeit hat er nicht nur viel Zuspruch erhalten, sondern auch eine Förderung. Doch die passenden Partner zu finden, war nicht einfach. Mit viel Naivität, wie Meinecke erzählt, um seine Vision vom 3D-gedruckten Fahrrad zu verbreiten, ist er damals losgezogen und hat sich Wissen und Kontakte aus dem WWW extrahiert. Zudem hat das Netzwerk der Uni Magdeburg geholfen.

"Wir starteten damals mit vier Rahmenprototypen aus Edelstahl, die uns weit mehr als 20.000 Euro in Anwendung des 3D-Drucks kosten sollten. Ein Business Case, der auf dieser Basis zu scheitern drohte. Also zogen wir los, um uns nach Alternativen umzuschauen. Über Umwege landeten wir beim Feinguss für die Herstellung der hochkomplexen Rahmenbestandteile. Um den Werkzeugen und den damit verbundenen sehr hohen Kosten aus dem Weg zu gehen, fertigten wir die für den Feinguss benötigten Kerne mithilfe des Kunststoff-3D-Drucks. Auf diese Weise konnten wir unserer Vision um den 3D-Druck zumindest treu bleiben. Dennoch entpuppte sich der Prozess ebenfalls als hinfällig, obwohl der Technical Proof of Concept zum Ende der Förderperiode erbracht werden konnte. Die Ausschussquote war aufgrund der komplexen Bauteilgeometrien derart hoch, dass uns der Partner vor dem avisierten Produktionsstart im Regen stehenließ. Also wurde es zum zweiten Mal nichts - weshalb wir nach zwei Jahren der Entwicklung und Investitionen wieder am Anfang standen."

Die meisten Jungunternehmer hätten wohl hier die Reißleine gezogen. Nicht so Sebastian Meinecke. "Zu dem Zeitpunkt waren wir zu dritt. Autodidaktisch hatte ich mir das Wissen für alles angeeignet, was das Thema Finanzen anbelangt. Und an die Vorzüge des 3D-Drucks glaubten wir noch immer. So habe ich mit meinem heutigen Geschäftspartner Ramon Thomas weltweit nach den Möglichkeiten für den 3D-Druck in Serie gesucht. Fündig wurden wir in Moritzburg nahe Dresden." Durch Zufall wurde zu diesem Zeitpunkt der Risikokapitalgeber bmp Ventures AG auf das Treiben der Magdeburger aufmerksam und beteiligte sich an der Vision.

Heute fertigt Urwahn mit zwei Partnern die Bauteile im Laser-Powder-Bed-Fusion-Verfahren (LPBF). Einen der beiden, den Technologiekonzern Oerlikon, besuchen wir in Barleben, zehn Autominuten von Urwahn entfernt. "Oerlikon produziert bereits sehr viele 3D-Teile für die automobile Anwendung. Und die Schweizer sind weltweit einer der größten 3D-Druck-Dienstleister in diesem Bereich." Bei Oerlikon empfängt uns Business Developer Peter Böttner und erklärt die riesigen 3D-Drucker. In einem werden gerade Bauteile für Urwahn hergestellt (siehe Foto).

Urwahn-Bikes sind einzigartig

Urwahn-Bikes sind nicht nur optisch einzigartig - durch den 3D-Druck sind sie auch technisch unique. Dabei sind nicht nur Rahmenstruktur und Design besonders, sondern auch die Nachhaltigkeit. "Wir wollen immer regional bleiben, soweit es geht. Unser Rahmenbauer ist nahe Magdeburg. Die Pulverbeschichtung ist mit zwei Partnern in Hannover aktiv. Ebenso die Rohrtechnik zur Herstellung der speziellen Rohrprofile." Weiterführend wollen sie die Wertschöpfung noch stärker zurück nach Deutschland verlagern, weshalb Anbauteile wie Kurbeln, Pedale und Bremsen regional produziert werden sollen. "Wir wollen Vorreiter sein und konzentrieren uns auf die Technologien im regionalen Umfeld. Diese haben wir mittlerweile insofern verstanden, dass wir uns einen deutlichen Marktvorsprung erarbeitet haben. Klingt vielleicht gar etwas arrogant, ist aber so." Betrachtet man Urwahn von außen, klingt es gar nicht arrogant. Denn das, was Sebastian Meinecke und Ramon Thomas mit rund 20 Kollegen auf die Beine gestellt haben, beeindruckt. Vor allem deswegen, weil es bislang noch niemand so macht.

75 Prozent der Urwahn-Bikes mit E-Antrieb

Herausgekommen ist ein Grundmodell in drei Ausprägungen: Stadtfuchs (Pendler), Waldwiesel (Gravel) und Platzhirsch (Urban), die farblich wie auch ausstattungstechnisch an eigene Präferenzen angepasst werden können. Selbst für die, die sich lieber vom 250-Watt-Elektromotor antreiben lassen. Damit ist der Motor in den Urwahn-Bikes ähnlich kräftig wie der im Muli (siehe Artikel im Anschluss). Das E-Bike bringt samt im Unterrohr integriertem Akku lediglich 14 Kilogramm auf die Waage, ohne E-Antrieb sind es gut drei weniger - das ist für den Querfeldein-Einsatz ein solider Partner mit Haltbarkeitsgarantie. Denn trotz der ungewöhnlichen Rahmenform ist die Steifigkeit höher als bei vielen Diamant-Rahmen - trotz einer Wandstärke von lediglich 0,7 bis 0,9 Millimetern.

Rund 75 Prozent der Urwahn-Kunden wählen eine Version mit Mahle-Elektroantrieb (Hinterradnabenmotor), Tendenz steigend, wie Meinecke erzählt, der selbst lieber "Biobike" radelt. Muli findet auch Meinecke extrem gut, da es sich bei diesem handlichen und leichten Lastenrad um eine schlaue Lösung handelt, die gut in Städte passt. Urwahn spielt nicht nur mit dem Gedanken, ein lastenradähnliches Bike anzubieten. Details sind jedoch noch nicht spruchreif. Zudem soll es ein S-Pedelec geben, also die schnelle E-Variante, die 45 km/h schafft und für viele Pendler das Auto ersetzen kann.

Trotz allem ist Urwahn mit seinen bislang gut 1.000 verkauften Bikes "eine kleine Manufaktur" im Bike-Business. "Wir legen viel mehr Wert auf Qualität, Individu-alität und Technologie. Nicht ohne Grund sind wir entgegen der Branche im Bereich des 3D-Drucks bereits einer der Leuchttürme und weltbekannt." Klar will Urwahn wachsen. Das aber gesund.

Vertriebsfokus von Urwahn ist Deutschland

Daher sei man sehr stark am Kunden dran, auch über neue Wege. "Der Autohandel hat mobilitätsinteressierte Zielgruppen und weiß, wie qualitative Beratung funktionieren muss. Sie haben die Expertise und die wirtschaftlichen Möglichkeiten, mit uns im Themengebiet ,Zweirad' zu skalieren. Zudem haben Autohäuser oft attraktive Standorte. Bikes und Autos sollten sich also zukünftig ergänzen und passen angesichts der sich wandelnden Infrastrukturen hervorragend zusammen." So stehen mittlerweile bei gut einem Dutzend der großen Autohändler Urwahn-Bikes in den Schauräumen. "Wenn der Autohandel sich ordentlich aufstellt, haben sie alles vor Ort: Auto, Moped, Lastenrad, Fahrrad, für jedes Gebrauchsszenario haben sie den Fit zu den Endkunden. Autohändler müssten zu Mobilitätshubs von morgen werden", findet Meinecke.

Urwahn ist übrigen eine Wortkombination aus Urban und Wahnsinn. Passt laut Sebastian Meinecke nicht nur zu seinen Rahmen, sondern auch zu sich. FES, das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten und Hersteller der DDR-Renner, existiert übrigens noch immer. Alles irgendwie Wahnsinn - wie damals.

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