_ Bei Continental heißt es: entweder - oder. Entweder Sommer- oder Winter-Mischung, Lamellen und Profilarchitektur für die Reifen. Statt auf Ganzjahres-Kompromisse setzen die Niedersachsen auf Spezialisten. Der neue heißt TS 860 und ist trotz seiner Winterprägung nicht gänzlich frei von Zugeständnissen. Grund sind jene Zielkonflikte, die jede neue Reifengeneration austragen muss.
Die Decke längen
Plastisch lässt sich dies am Beispiel einer zu kurzen Bettdecke erläutern, wie Continental-Chefentwickler Holger Lange erklärt: "Nehmen wir an, dass unsere Decke etwa zehn Zentimeter zu kurz ist. Dann frieren entweder die Füße oder der Oberkörper. So geht es jedem Reifenentwickler, wenn er die gewünschten Reifeneigenschaften justieren muss." Von Rollwiderstand und Laufruhe über Haftfähigkeit bis zur Perfomance beim Bremsen sowie der Temperaturabhängigkeit - Die Liste ist lang und die Lösung doch recht simpel: "Ist die aktuelle Decke zu kurz, dann muss ich die neue Decke länger machen." So einfach sieht es der Pneu-Profi. Übertragen auf die Reifenentwicklung sind drei Wege möglich.
Erstens kann man das Verhältnis der bis zu 40 Inhaltsstoffe einer Gummimischung verändern - selbst Löwenzahn ist als Zusatz vielleicht bald möglich, die Forscher haben die Pusteblume weiterhin auf dem Schirm. Allein das Zusammenführen der Inhaltstoffe ist eine Wissenschaft für sich, denn einfach alles in einen großen Bottich zu kippen, funktioniert nicht. So haben die Niedersachsen eigene Rezepte entwickelt, wann welche Stoffe wie miteinander verknetet werden, dass am Ende eine homogene Masse entsteht. Der Lohn bemisst sich an den besseren Eigenschaften, wie dem Label für den Nassgrip, das beim TS 860 statt "C" nun "B" ist.
Struktur
Die zweite Stellschraube ist das Profil. Im Winter braucht es viele Kanten, die sich förmlich in den Schnee fressen können. Neben den Blöcken der Lauffläche gehören die Lamellen dazu. Diese sollen das Eis aufschmelzen und das entstandene Wasser über eine Drainage abführen. So wird verhindert, dass sich zwischen Untergrund und Reifen ein Wasserfilm bildet. Ein recht komplexes Drainagen-System übernimmt diesen Kampf gegen das Aquaplaning.
Acht, vier oder zwei?
Die dritte Ebene beschreibt die Tiefe des Profils. Die Continental-Verantwortlichen empfehlen drei Millimeter für Sommer-Pneus und vier Millimeter für die Winter-Pendants. Denn mit schwindender Profiltiefe bleibt die Struktur der Lauffläche sprichwörtlich auf der Straße und mit ihr die stabilisierenden Eigenschaften.
Was das heißt, merkt man erst im Ernstfall. Den stellte der Reifenhersteller Anfang des Jahres im österreichischen Schladming nach. Auf den weißen Pisten in der Steiermark heiß es, das Fahrzeug vom City-Tempo (35 km/h) bis zum Stillstand abzubremsen. Wir testeten mit Neureifen (8 mm) sowie mit vier und zwei Millimeter Restprofil. Allein der Schritt von acht auf vier Millimeter verlängerte den Bremsweg auf Schnee um gut zehn Prozent. Wie erwartet war dann der Performance-Verlust des Probanden mit zwei Millimetern (1,6 mm sind erlaubt) noch eklatanter. Dieser Winterreifen büßte allein gut 30 Prozent an Traktion und einen deutlich höheren Prozentsatz an der Gesamt-Leistungsfähigkeit an. Hinterm Steuer war vor allem eines spürbar: ein nun deutlich unsicheres Fahrverhalten.
Dieses Wissen können die Fahrer der Kompakt- und Mittelklasse nutzen, wenn sie ihre Reifenneulinge im Herbst aufziehen lassen. Unter den zahlreichen Modellen (siehe Übersicht Seite 74) gibt es den TS 860 mit 36 Varianten in 21 Dimensionen für 14- bis 17-Zöller. 20 weitere Versionen sollen 2017 folgen, wenn der neue Winter-Spezialist das Erbe des TS 850 antritt.
Seinen Vorgänger soll er beim Nassbremsen um fünf Prozent unterbieten, den Bremsweg auf Schnee um vier Prozent verkürzen. Gleichzeitig soll es beim Schnee-Handling, bei der Traktion auf dem weißen Untergrund und beim Komfort des Reifens Fortschritte geben bei gleicher Laufleistung und selbem Rollwiderstand.
- Ausgabe 10/2016 Seite 72 (427.7 KB, PDF)