Der neue Tonale und die aufgefrischten Typen Stelvio und Giulia sollen in diesem Jahr nur der Anfang sein: Alfa Romeo will mit emotionalen Designs und leistungsstarken Motoren zurück zu alter Größe finden und zitiert dabei seine Vergangenheit. Allen voran das legendäre Coupé Giulia Sprint GT, jenen 1963 vorgestellten formvollendeten Technologieträger, der Alfa bis Mitte der 1970er zahllose Siege und Meistertitel sowie große Stückzahlen sicherte. Längst nennen Fans diese zweitürige Giulia schlicht "Bertone" nach dem berühmten Designstudio, in dem der junge Chefcouturier Giorgio Giugiaro die Kleider der schönen Italienerin entwarf. Zum Traumwagen von Familienvätern in den tempoverrückten 1960ern avancierte die schnelle Giulia Sprint GT aber nicht nur durch unwiderstehliche Konturen, mit denen sie die charismatische viertürige Giulia in den Schatten stellte. Das Bertone-Coupé wies auch in die Zukunft durch Finessen wie Leichtbau und eine Sicherheitskarosserie mit niedrigem Schwerpunkt. Überraschend groß war die Typenvielfalt: Vom bezahlbaren 1,3-Liter-Vierzylinder bis zum 2,0-Liter-Rennmotor reichte das Band. Dieser Alfa war eine Messlatte in der Sportliga, speziell in Veloce, GTA oder Quadrifoglio-Spezifikation. Über 225.000 Einheiten wurden von Giorgio Giugiaros stilistischem Geniestreich gebaut, der – sofern er dem frühen Rosttod trotzte – auch als Oldtimer begehrt ist.
Tatsächlich weiß die 1910 als "Anonima Lombarda Fabrica Automobili" gegründete und heute zum Stellantis-Konzern gehörende Mailänder Marke nur zu gut, dass es Autos wie die Giulia Sprint GT sind, mit denen Alfa Romeo Krisen überstand und trotz immer wieder winziger Absatzzahlen bis heute nichts an Anziehungskraft verloren hat. So präsentiert Alfa den neuen Tonale Plug-Hybrid als erstes elektrifiziertes Modell der Marke nicht ohne direkten Verweis auf die Designverwandtschaft mit Giorgio Giugiaros Giulia Sprint GT. In der Seitenlinie soll der Tonale das Bertone-Coupé zitieren. Aber auch die gerade aufgefrischte aktuelle Giulia Limousine (Serie 952) indiziert ihre Verwandtschaft mit dem Giugiaro-Coupé durch die "Giorgio" genannte Plattform und klangvolle Ausstattungslinien wie Veloce, Sprint und Quadrifoglio oder und schon vor dem Facelift durch Farben, die explizit an die vor 60 Jahren vorgestellte Giulia Sprint GT erinnerten. Was machte diesen Gran Turismo zum Mythos?
Alfa Romeo Giulia Sprint GT 60 Jahre
BildergalerieAn Selbstbewusstsein fehlte es Alfa Romeo schon 1963 nicht, damals als Italien noch der Deutschen liebstes Reiseland war und mit dem Bau der Brennerautobahn begann, die auf österreichischer Seite bereits fertig war. Damals als Ferrari den Titel des Formel-1-Weltmeisters dem englischen Lotus-Team überlassen musste und Ferrari in Monza nicht einmal ins Ziel kam. Damals als sich Adriano Celentano und Rita Pavone in den italienischen Singlecharts der französischen Stilikone Françoise Hardy geschlagen geben mussten und Inter Mailand das Championat der höchsten nationalen Fußballliga verlor, immerhin als Sieger im Europapokal der Landesmeister reüssierte. Umso vollmundiger tönte Mailands zweites sportliches Aushängeschild: "Die großartige Entwicklung Alfa Romeos spiegelt sich in … Mailand, dort liegt heute die zweitgrößte Automobilfabrik Italiens. Schöner, schneller, sicherer: Mit dem Giulia Sprint GT brachte Alfa Romeo das einzige Auto der Mittelklasse, das alle Eigenschaften eines Sportwagens und Platz für 4 komfortable Sitze hat". In der Tat traf das Coupé der Giulia-Baureihe 105/115 Sportwagenfans mitten ins Herz, wie ein Fachmedium feststellte: "Da stehen 20 neue Sportwagen auf der Frankfurter Automesse, aber die italienische Marke mit dem klangvollen Namen baut die Autos mit den besten Anzügen. Auf die schauen auch Porsche- und Mercedes-SL-Fahrer."
Allerdings zählte schon damals neben schönen Linien – bei denen sich Designer Giugiaro an seinen kurz zuvor gezeigten großen Alfa-Coupés 2000 und 2600 Sprint orientierte – auch die Technik unter den Motorhauben. Schließlich sollte der Mittelklasse-Alfa im Bertone-Dress unterstreichen, dass verführerische Italianità an Velocità für Rennsiege gekoppelt ist und sich so auf große Stückzahlen kommen lässt, die das für die Giulia neu eröffnete Werk Arese auslasten. Tatsächlich konnte sich schon der erste Sprint GT mit 78 kW / 106 PS starkem 1,6-Liter-Doppelvergaser-Aggregat mit Porsche 356, Volvo P 1800 oder BMW-Neue-Klasse-Typen messen und auch offenen Engländern von MG und Triumph Paroli bieten. Die Sonne des Südens sollte dagegen das Giulia Gran Turismo Cabriolet von Touring anziehen, allerdings endete die Cabrio-Karriere nach nur zwei Jahren durch den finanziellen Kollaps der Carrozzeria Touring.
Alfa Romeo Giulia (2023)
BildergalerieWenn die 1960er und 1970er eine Ära waren, in denen viele Rennsieger in rot lackierten Geschossen über die Ziellinien schossen, die nur die Hälfte eines V12-Ferrari kosteten, lag das vor allem an den Alfa Romeo GTA-Coupés mit grünem oder weißem Quadrifoglio-Glücksbringer. Seit 1923 ist das vierblättrige Kleeblatt ein Erkennungszeichen für Werksrennwagen aus Milano, aber die Giulia-Familie durfte es als erster Straßensportler tragen. GTA, dieses berühmt-berüchtigte Kürzel lud Autodelta, Alfas Partner für Homologationsfahrzeuge, beim Bertone Coupé mit technischen Delikatessen auf. "A" stand für "alleggerita", was so viel wie "erleichtert" bedeutete, und indizierte die kostspielige Leichtmetallkarosserie der 700-Kilo-Coupés. Zusammen mit der außergewöhnlichen Twin-Spark-Doppelzündung der Vierzylinder und weiterem technischen Feinschliff die Grundlage für eine eindrucksvolle Kollektion an Meistertiteln. Nicht weniger als 61 Tourenwagen-Championate konnten die Giulia GTA in den Jahren 1966 bis 1975 für sich entscheiden. Auch auf der Straße zählten die GTA-Coupés zu den schnellsten – zeigten im Alltag allerdings die Nachteile von Rostanfälligkeit und rasch erblindender Plastikfenster.
Alfa Romeo Tonale Fahrbericht (2023)
BildergalerieKein GTA, aber ebenfalls spektakulär gab sich der exzentrisch designte GT Junior Zagato aus der gleichnamigen Carrozzeria, den Alfa Romeo zeitweise parallel zum 1966 eingeführten 1300 GT Junior anbot. Die Zagato-Konturen (kreiert von Ercole Spada) kosteten gut 25 Prozent Aufpreis gegenüber dem gefälligeren Bertone-Coupé, so fanden sich nur gut 1.500 Zagato-Fans. Die Eintrittskarte in den Club der erfolgreichsten europäischen Gran-Turismo-Hersteller löste Alfa Romeo dann endgültig mit den Doppelscheinwerfer-Typen 1750 GT Veloce (ab 1967) und 2000 GT Veloce (ab 1971). Zwei fast 200 km/h schnelle Imageträger für Familie, Freizeit und Business, deren Prestigevorsprung auch den Absatz der preiswerten 1,3- und 1,6-Liter Bertone-Coupés förderte. Ansonsten genügte kleine Kosmetik, um die Bertone Coupés in Bestform zu halten, so verschwand 1967 die abgesetzte Kanten-Motorhaube zugunsten glatter Formen. Erst als 1974 die ebenfalls von Giugiaro gezeichnete Alfetta GTV debütierte, nahte für die Bertone-Giulia der Ruhestand. Aus dem die Giulia Sprint bis heute aktiv ist: als Genspenderin für neue Alfa-Generationen mit verführerischer Italianità.