_ Was haben der Opel Vivaro und der Mercedes-Benz Vito seit ihrer Auffrischung im letzten Jahr gemeinsam? Die gleiche Antriebsquelle. Zumindest wenn man beim Stuttgarter Verzicht übt und sich für den schwächeren 1,6-Liter-CDI entscheidet. Den entwickelten die Stuttgarter nämlich nicht selbst, sondern bedienen sich dafür beim Kooperationsparter Renault, wo man den Hubraumwinzling seinerseits im Trafic verbaute. Und der Franzose stellt eben auch die technische Basis für den Opel Vivaro.
Deshalb darf man den beiden Test-Kontrahenten durchaus ein entferntes Verwandtschaftsverhältnis zusprechen. Entfernt auch, weil beide Hersteller den Turbo-Vierzylinder unterschiedlich abstimmten. Bei Opel - und Renault - stellt die getestete 120-PS-Version bereits die zweitstärkste Motorisierung. Daimler sieht den Renault-Motor dagegen als kostengünstige Alternative zum eigenen und bis zu 190 PS starken 2,1 Liter großen CDI. Was sicher der Hauptgrund dafür ist, dass Mercedes-Benz auf den Einsatz eines Bi-Turbos verzichtet.
Drehmomente
Opel setzt dagegen auf die doppelte Aufladung und die sorgt schon auf dem Papier für deutliche Leistungs-Differenzen zum Mercedes-Benz: Liegen Vito und Vivaro bei der Motorleistung mit 114 beziehungsweise 120 PS noch eng beisammen, fällt die Differenz beim Drehmoment umso größer aus. 270 Newtonmeter schickt der Schwabe an seine Antriebsräder - in Verbindung mit dem kleinen Diesel übrigens markenuntypisch an die Vorderräder. Im Opel bringt es der Hubraumwinzling auf immerhin 50 Newtonmeter mehr - und die sind beim Fahren umso stärker zu spüren.
Im Vergleich zum Mercedes-Benz wirkt der Opel deutlich agiler, reagiert viel williger und nachdrücklicher auf die übers Gaspedal übertragenen Befehle und pariert auch niedrige Drehzahlen problemlos. Ortsdurchfahrten lassen sich so verbrauchsgünstig im sechsten Gang bei 1.100 Touren durchrollen. Und auch das anschließende Beschleunigen klappt trotz des 700-Kilogramm-Testballasts im Laderaum meist, ohne das Renaulttypische teigig-schaltbare Sechsganggetriebe bemühen zu müssen. Im Daimler bleibt der Vorgang unumgänglich und nicht selten wird sogar der vierte Gang nötig, um den Anschluss zum Opel nicht zu verlieren.
Erst nachdem man eine Anfahrschwäche überwunden hat, erwacht das Aggreat mit dem Namen "OM 622" zum Leben. Unterhalb von 1.800 Touren wirkt der Vierzylinder dagegen kraftlos und träge. Wozu vor allem die lange Getriebeübersetzung beiträgt. Zumindest bei beladenem Frachtabteil passt die Drehzahl erst oberhalb von 80 km/h zum sechsten Gang. Konkretes Beispiel gefällig? Bei der Elastizitätsmessung von 80 bis100 Stundenkilometern im höchsten Gang benötigte der Stuttgarter knapp sieben Sekunden länger als der Rüsselsheimer. Weshalb man über Land im Vito eigentlich immer eine Fahrstufe niedriger unterwegs ist als im Vivaro und dem Mercedes-Benz subjektiv einige Hundert Kilogramm Übergewicht zum Konkurrenten anlastet.
Gewichte
Was allerdings nicht zutrifft, erst recht nicht, wenn man genauer hinsieht. Denn der Vivaro-Testwagen brachte mit 1.945 Kilogramm zwar 85 Kilo weniger auf die Waage als der Vito. Der stellte sich dem Test allerdings auch samt kompletter Sicherheitsausstattung im Laderaum, inklusive Holzboden und Seitenverkleidungen, jeweils mit integrierten Lasi-Zurrschienen.
Der Opel verfügte hinten lediglich über "nacktes Blech", was seinen kleinen Gewichtsvorteil wieder relativiert. Dass der Vito mit 1.020 Kilo aber 55 Kilo mehr zuladen darf als sein Konkurrent, verdankt er lediglich dem um 130 Kilogramm höheren zulässigen Gesamtgewicht des Testwagens. Außerdem verbaut Mercedes-Benz, um Gewicht zu sparen, nur noch einen 57-Liter-Tank, während der Opel 80 Liter Diesel bunkern kann. Traditionell sammelt der Stern-Transporter Punkte bei den Themen Fahrkomfort und Verarbeitung. Und auch der Frontantriebs-Vito macht da keine Ausnahme. Selbst tiefe Bodenwellen filtern die einzeln aufgehängten Vorderräder und die hintere Schräglenkerachse wirksam heraus. Gleichzeitig bleibt der Daimler von sportlich gefahrenen Kurven und scharf gefahrenen Lastwechseln unbeeindruckt. Aufschaukeln oder das typische Schwanzwedeln? Fehlanzeige.
Wertigkeit
Da gibt sich der weicher abgestimmte Opel deutlich schaukeliger und auch die Lenkung reicht an die hohe Präzision des Schwaben nicht heran. Gleiches gilt für die Sitze, die im Mercedes-Benz angenehm straff, im Opel dagegen auch nach dem letztjährigen Facelift Renault-typisch weich gepolstert ausfallen und damit wenig Langstreckentauglichkeit und Seitenhalt bieten. Auch in Sachen Verarbeitung hat der Stern die Nase klar vorn. Zwar verbaut auch Daimler im Innenraum wenig ansehnliches Hartplastik. Dafür wirkt der Mercedes aber wie für die "Ewigkeit" gebaut. Hier klappert oder knistert sicher auch nach vielen Einsatzjahren nichts. Ein Eindruck, den der lässiger zusammengefügte Vivaro nicht vermittelt: Beim Testwagen knarzte es vernehmlich aus Richtung Armaturenträger und Trennwand. Zudem hatte sich beim 4.400 Kilometer jungen Testwagen schon der Schließmechanismus des Handschuhfaches verabschiedet.
Hier bietet der im britischen Luton montierte Vivaro wie sein Zwillingsbruder Renault Trafic noch viel Verbesserungspotenzial.
Vorbildlich dagegen: Der 120-PS-Version spendiert Opel die spritsparende Start-Stopp-Anlage serienmäßig. Solche Technik ist bei den Vitos, die mit dem Einstiegsdiesel geordert werden, leider weder für Geld noch gute Worte zu bekommen. Vielleicht auch ein Grund, dass der Opel nach 220 Kilometern auf der Teststrecke die Nase beim Verbrauch knapp vorn hat. 7,5 l/100 km genügten ihm auf der gemischten Testrunde, der Mercedes-Benz benötigte 0,2 l/100 km mehr. Angesichts der höheren Drehzahlen hatten wir eine höhere Differenz erwartet. Ebenso bei den Listenpreisen: Ab 25.390 Euro ist der Opel als 2,9-Tonner in Verbindung mit der 120-PS-Variante zu haben. Der Daimler-Händler ruft für einen vergleichbaren 3,05-Tonnen-Vito exakt 1.000 Euro mehr auf.
Sonderangebot
Genaues Hinsehen lohnt sich auch hier: Denn für wen eine eingeschränkte Konfigurationsmöglichkeit kein Problem ist, kann bei Mercedes auch zum Sonderangebot "Worker" greifen, das in Verbindung mit der getesteten Leistungseinstellung und der mittleren Karosserieversion für discountmäßige 20.130 Euro zu haben ist.
Trotzdem: Vito-Interessenten, die regelmäßig mit viel Zuladung fahren oder auf weiten Strecken unterwegs sind, greifen weiterhin besser zum deutlich souveräneren 2,1 Liter großen Diesel. Auch wenn der mindestens satte 8.400 Euro mehr kostet als das "Worker"-Modell. Dem bleiben übrigens auch die zahlreichen Assistenzsysteme wie Spurwächter oder Notbremsassistent verwehrt, die Daimler für den Vito bereithält.
Solcherlei elektronische Helfer sind für den Vivaro bislang nicht zu haben. Dafür genügt die 120-PS-Bi-Turbo-Version im Opel für alle Einsatzanforderungen. Und so wird wieder mal klar: Entfernte Verwandte haben eben oft unterschiedliche Charaktere.
- Ausgabe 11/2015 Seite 54 (450.6 KB, PDF)