Die eigentliche Hauptperson fehlte - aber auch ohne den früheren VW-Konzernchef Martin Winterkorn ist der große Diesel-Betrugsprozess angelaufen. Nach jahrelangen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und zwei Corona-Verschiebungen eröffnete das Landgericht Braunschweig am Donnerstag die Hauptverhandlung gegen zunächst vier weitere Ex-Führungskräfte des Wolfsburger Autobauers.
Zum Auftakt trugen die Strafverfolger eine mit deutlichen Vorwürfen gespickte Anklage vor. Demnach sollen die Ingenieure und Manager tief in die Entwicklung und den Einsatz der Manipulations-Software in Millionen Fahrzeugen verstrickt gewesen sein. Doch auch in Richtung Winterkorn wurden schon Anschuldigungen formuliert, obwohl dessen Prozessteil wegen gesundheitlicher Probleme vertagt war.
133 Verhandlungstage sind angesetzt
Wer wusste wann was über das geheime Programm ("defeat device"), das Deutschlands größtes Unternehmen bisher mehr als 32 Milliarden Euro an juristischen Ausgaben kostete und das Verbrauchervertrauen in die Autobranche weltweit beschädigte? Eine lange Auseinandersetzung hat begonnen, 133 Verhandlungstage bis in den Sommer 2023 sind geplant.
Das Gericht hatte die Stadthalle gemietet, um Platz für alle Zeugen, Zuhörer und Journalisten zu haben. Die Angeklagten - äußerlich unbewegt - erschienen mit jeweils drei Anwälten pro Person, schauten unsicher durch den Raum oder blickten betrübt auf ihre Unterlagen.
Staatsanwaltschaft überzeugt: Winterkorn wusste Bescheid
Oberstaatsanwältin Elke Hoppenworth ist überzeugt, dass auch der damalige oberste Chef eine wesentliche Verantwortung trägt. Den Ermittlungen zufolge soll Winterkorn spätestens im Mai 2014 vom Einsatz einer illegalen Software in den USA gewusst haben: "Er stoppte bewusst pflichtwidrig die weitere Vermarktung nicht. Die Angeklagten wollten damit dem Unternehmen möglichst hohe Gewinne verschaffen." Denn der Einbau besserer Abgastechnik, der eine Einhaltung der scharfen US-Emissionsregeln auch ohne schmutzige Tricks erlaubt hätte, wäre wahrscheinlich deutlich teurer gewesen.
Erst Ende September 2015 gab VW zu, dass ein Softwarecode über Jahre bei als "sauber" beworbenen Dieseln erkannte, ob der Wagen in einer Testsituation war. Nur dann war die Stickoxid-Reinigung ganz aktiviert, während auf der Straße ein Vielfaches an Schadstoffen in die Luft geblasen wurde. In der Rekonstruktion der Geschehnisse zeigt sich aus Sicht der Ankläger eine Strategie der gezielten Vertuschung.
Ingenieure und Manager widersprechen sich
Aussage steht gegen Aussage. Ingenieure, die die Abschalteinrichtung vorgeschlagen haben sollen, sagen sinngemäß: Wir haben Bedenken geäußert und vor Konsequenzen gewarnt. Die Vorgesetzten entgegnen: Es wurde über Probleme gesprochen, nie aber über ungesetzliches Handeln.
Für die Staatsanwaltschaft ist klar: Auch Winterkorn könne sich nicht damit herausreden, er habe nur von Unregelmäßigkeiten gehört und die - im Nachhinein - wohl unterschätzt. Nachdem Wissenschaftler in den USA 2014 dem Treiben auf die Schliche gekommen waren, sei etwa die Notiz eines Vertrauten in der "Wochenendpost" des Chefs relativ eindeutig gewesen. Ihm sei mitgeteilt worden, dass Autos zulässige Grenzwerte um das bis zu 35-fache überschritten. Dies habe Winterkorn nach Überzeugung der Strafverfolger zur Kenntnis genommen. Aber: "Er entschied sich gegen eine Offenlegung und hoffte, die Rechtsverstöße weiter verschweigen zu können."
"Wir haben beschissen"
Als US-Aufseher immer stärker auf Antworten drangen, sei das "defeat device" spätestens bei einer Manager-Besprechung, dem sogenannten "Schadenstisch", Ende Juli 2015 direkt thematisiert worden.
Winterkorn habe mit dem Vertrauten - ebenso ein hochrangiger VW-Manager - zur Vorbereitung telefoniert. Dieser habe ihm erklärt: "Wir haben beschissen." In der Sitzung sei der Umfang drohender Strafzahlungen für 500 000 manipulierte Fahrzeuge in den Vereinigten Staaten diskutiert worden. Der "befürchtete Wutausbruch" Winterkorns sei jedoch ausgeblieben. Ein ebenfalls angeklagter hoher Entwickler habe daraufhin bemerkt: "Shit, voll schiefgelaufen."
Der Ursprung des wohl größten deutschen Industrieskandals geht weiter zurück. VW wollte demnach in den USA gegenüber der Konkurrenz aufholen, der dort noch wenig verbreitete Diesel sollte dabei helfen.
Bis zu zehn Jahre Haft drohen
Dann habe eine Serie von Verschleierungen rund um den Software-Trick eingesetzt - mit dem Ergebnis, dass den fünf früheren Managern und Ingenieuren heute gewerbs- und bandenmäßiger Betrug vorgeworfen wird. Schlimmstenfalls stehen darauf bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe.
Ein langjähriger, mitangeklagter Leiter der VW-Antriebstechnik soll laut Staatsanwaltschaft ab 2006 eine zentrale Rolle beim Design der Software eingenommen haben. Zur Absicherung habe er die Zustimmung eines Vorgesetzten einholen wollen. Der Einsatz sei abgesegnet worden: "Lasst euch nicht erwischen!" Allen Teilnehmern eines Treffens in jenem Jahr sei bewusst gewesen, dass der geplante US-Dieselmotor die Grenzwerte ohne Testerkennung nicht schaffe.
Im Laufe der Zeit seien auch andere "über den gesamten Sachverhalt im Bilde" gewesen. Vor Gericht stehen daher zudem ein ehemaliger Entwicklungschef der Kernmarke VW, ein Hauptabteilungsleiter der Dieselmotoren-Entwicklung und ein Abteilungsleiter für die Diesel-Abgasreinigung. Letzterer soll die Täuschungen gegenüber den US-Behörden - entgegen Weisungen aus Wolfsburg - selbst eingeräumt und bei der Aufklärung geholfen haben, erklärte sein Verteidiger.
"Wenn wir schon bescheißen, dann machen wir es richtig."
Zuvor sind die Akteure und Mitwisser noch weiter gegangen: Die Software hat bald auch erkannt, ob jemand am Steuer saß, nachdem sie auf langen Autobahnfahrten irrtümlich den Testmodus registriert hatte - verstopfte Partikelfilter waren die Folge. In einer Runde soll laut Staatsanwaltschaft der Satz gefallen sein: "Wenn wir schon bescheißen, dann machen wir es richtig." Und auch diese Manipulationen seien weiter gedeckt worden.
Am 20. September 2015 räumte Winterkorn die Täuschungen dann ein. Gesamtschaden durch das Zusammenwirken der Fünf über all die Jahre laut Anklage: über 230 Milliarden Euro unter anderem wegen falscher Zulassungen, Steuervorteilen und Wettbewerbsverzerrung. Andernorts laufen noch Zivilverfahren, der Bundesgerichtshof wies am Donnerstag etwa Klagen von Dieselkunden auf Rückzahlung von Leasingraten im Regelfall ab.
Wann Winterkorn in Braunschweig dazukommt, ist offen. Ein Verteidiger mahnte, man dürfe nicht nur seinen Mandanten zur Rechenschaft ziehen - und kritisierte die Prozessabtrennung gegen den einst bestbezahlten deutschen Konzernlenker wegen einer Hüft-OP scharf: "Sich der Verantwortung für das eigene Handeln zu stellen, sieht anders aus."
Das haben die Gerichte im VW-Diesel-Skandal bereits entschieden
Laut dem ersten und wichtigsten Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) zum Dieselskandal haben betroffene Klägerinnen und Kläger Anspruch auf Schadenersatz von VW. Sie können ihr Auto zurückgeben und bekommen ihr Geld wieder. Die gefahrenen Kilometer werden allerdings mit dem Kaufpreis verrechnet. Und jeder Fall ist anders. Diese Spezialfragen sind inzwischen entschieden:
- Später Kauf: Wer sein Auto erst nach Auffliegen des Abgasskandals im September 2015 gekauft hat, geht leer aus. Eine Arglosigkeit, die VW hätte ausnutzen können, ist hier nicht mehr gegeben. Für Autos der Konzernmarken Audi, Skoda und Seat gelten dieselben Regeln.
- Software-Update: Das verpflichtende Update, mit dem die Betrugssoftware deaktiviert wurde, ist keine neue unzulässige Abschalteinrichtung. Allein deswegen gibt es keinen Schadenersatz.
- Vielfahrer: Wenn jemand die geschätzte Laufleistung seines Autos voll ausgeschöpft hat, bleibt vom Schadenersatz nichts übrig. Der finanzielle Schaden ist durch die Nutzung vollständig ausgeglichen.
- Keine Deliktzinsen: Erfolgreichen Klägern muss Volkswagen den Kaufpreis nicht noch rückwirkend verzinsen. Die Kunden hätten für ihr Geld ein voll nutzbares Auto bekommen, so der BGH.
- Ratenkauf: Zum Schadenersatz gehören auch Extra-Kosten für eine Ratenfinanzierung wie Darlehenszinsen. VW muss getäuschte Kunden grundsätzlich so stellen, als ob sie das Auto nie gekauft hätten.
- "Kleiner Schadenersatz": Wer sein Auto behalten will, hat Anspruch auf Ausgleich des Minderwerts. Es wird bestimmt, welcher Betrag aus heutiger Sicht beim Kauf zuviel ausgegeben wurde. Dabei sind auch Vor- und Nachteile durch das Software-Update mit einzuberechnen.
- Weiterverkauf: Wenn jemand sein Auto weiterverkauft hat, ist der Schadenersatz-Anspruch nicht entfallen. Der Erlös wird mit den gefahrenen Kilometern vom Kaufpreis abgezogen. Eine sogenannte Wechselprämie vom Autohändler darf man ohne Abzüge behalten.
- Verjährung: Die Ansprüche verjähren nach drei Jahren. Wer unzweifelhaft 2015 vom Dieselskandal wusste und erst 2019 oder später geklagt hat, geht leer aus. Allerdings dürfen Gerichte dies Klägern nicht allein wegen der breiten Medienberichterstattung unterstellen.
- Konzernmarken: Klagen gegen den Mutterkonzern VW sind erfolgversprechender als Klagen gegen eine Tochter wie Audi. Hier bräuchte es Anhaltspunkte für eine Beteiligung an dem Abgasbetrug.
- Leasing: Wer sein geleastes Auto uneingeschränkt nutzen konnte, bekommt nicht die geleisteten Raten zurück. Das gilt zumindest dann, wenn keine anschließende Übernahme des Autos vereinbart wurde.