Es ist eine klassische Autobahn-Szene: Wir fahren mit einem 40-Tonner auf der rechten Spur, als sich auf der Auffahrt wenige Meter vor uns ein Silolaster nähert. Er fährt etwa mit der Hälfte unserer Geschwindigkeit und man sieht: Das wird eng. Wir kommen dem Gespann immer näher und der Fahrer vor uns wird sich in wenigen Sekunden in die Lücke drängen, während unser Lkw noch mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfährt. Instinktiv drücke ich mich bereits fester in den Sitz und ertappe mich einen kurzen Moment dabei, wie ich der Technik vielleicht nicht mehr ganz vertraue. Sie müssen wissen: Der Lkw, in dem ich sitze, fährt autonom und muss ganz alleine mit dieser Situation klarkommen.
Es ist kalt in Albuquerque. Die 500.000 Einwohner zählende Stadt in New Mexico ist für Chilis und die Serie "Breaking Bad" bekannt. "Hier gibt es aber auch die verrücktesten Autofahrer der USA", schmunzelt Peter Vaughan Schmidt, der Geschäftsführer von Torc Robotics. Der ehemalige Daimler-Manager ist bei dem Unternehmen an Bord, das gemeinsam mit dem deutschen OEM eine große Mission verfolgt: Bis 2030 sollen in den USA autonome Lkw auf den Highways unterwegs sein. Unser Schwesterblatt VerkehrsRundschau durfte eine Testfahrt mit einem autonomen Prototypen begleiten.
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Albuquerque ist nicht ohne Grund der Ort des Geschehens, denn die hochgelegene Wüstenlandschaft bietet einige interessante Testbedingungen. Im Sommer wird es gerne mal über 40 Grad heiß, im Winter sind die Berge der umliegenden Sandia Mountains von Schnee bedeckt. Es gibt Straßen, die etliche Höhenmeter überwinden, und einige große Handelsrouten, wie die ehemalige Route 66, durchqueren den US-Bundesstaat. Nicht zuletzt muss man auch die Aussage zu den verrückten Autofahrern für bare Münze nehmen: Die Region Albuquerque gehört statistisch gesehen zu den Unfallschwerpunkten in den USA. Wenn es ein autonomer Lkw also irgendwo schaffen muss, mit dem Straßenverkehr klarzukommen, dann hier.
Wasserstoff-Lkw
BildergalerieElmo
BildergalerieAutonomes Fahren: Hub-to-Hub-Verkehre
Um sich der Mission der selbstfahrenden Lastwagen zu nähern, müssen zunächst die Rahmenbedingungen geklärt werden: "Wir konzentrieren uns zunächst nur auf Hub-to-Hub-Verkehre", erklärt Suman Narayanan, der bei Daimler Truck North America den Bereich "Autonome Fahrzeuge" leitet. Das bedeutet: Die Ware wird zunächst von einem echten, menschlichen Fahrer in ein Hub gebracht, hier sattelt der Trailer dann auf einen autonomen Lkw auf, der die Langstreckenfahrt übernimmt und die Ladung in ein weiteres Hub bringt. Dort übernimmt dann wieder ein personengesteuertes Fahrzeug die Fracht und bringt sie zum Endkunden.
Hub-to-Hub-Verkehre sind ideale Voraussetzungen für den Start in die Autonomie: Die Highways in den USA sind lang und aus technischer Sicht verhältnismäßig undynamisch. Im Stadtverkehr hätte ein autonomer Lkw mit viel mehr unvorhersehbaren Situationen zu kämpfen. Wie etwa reagiert der Laster, wenn eine Person an einem Zebrastreifen steht, der Lkw stehen bleibt, die Person aber gar nicht über die Straße will? Fragen, die aktuell noch nicht geklärt werden können.
Doppelte Kooperation
Daimler Truck gehört mit seiner Marke Freightliner zu den absoluten Marktgrößen in den USA und will dies auch in Sachen autonome Fahrzeuge werden. Dafür kooperiert der Hersteller mit zwei Unternehmen: Waymo und die bereits angesprochene Firma Torc Robotics, an der die Daimler AG seit 2019 als Mehrheitsanteilseigner beteiligt ist. Sowohl Torc als auch Waymo stellen ein wesentliches Bauteil für selbstfahrende Autos her: die Steuer-Software.
Jene, die als Virtual Driver bezeichnet wird, gibt dem Lkw während der Fahrt die Befehle. Dabei verlässt sie sich im Fall von Torc Robotics auf rund 30 Radar- und Lidar-Sensoren sowie auf Kameras, die rund um das Fahrzeug angebracht wurden. Eine verlässliche Objekterkennungs-Technologie ist der Schlüssel, um das autonome Torc-System dabei zu unterstützen, Objekte unter schwierigen visuellen Bedingungen wie Dunkelheit, Nebel oder ungünstigen Witterungsbedingungen korrekt zu identifizieren. 2023 erwarb man deshalb den Objekterkennungsspezialist Algolux.
Mission Control übernimmt
Zurück ins Cockpit: Der Freightliner Cascadia ist ein typischer 40-Tonner, der zuhauf auf den amerikanischen Straßen zu sehen ist. Überwacht wird der Lastwagen aus der Ferne von der sogenannten Mission Control. Diese kann man mit einer Art Flugsicherung vergleichen.
Auf einem der etlichen Bildschirme wird immer der aktuelle Standort und der Status des Lkw angezeigt. Gibt es ein Problem, muss der Mitarbeiter an den Monitoren schnell reagieren und eine Lösung finden. So weit die Theorie - wie weit sind aber die autonomen Lkw in der Praxis? Das Projekt selbst befindet sich noch in der Anfangsphase. Laut Daimler Truck fahren insgesamt 30 Prototypen auf den US-amerikanischen Straßen, wobei damit sowohl die Fahrzeuge der Kooperation mit Waymo als auch Torc Robotics gemeint sind. Beide Unternehmen haben vor der ersten Ausfahrt bestimmte Strecken auf den öffentlichen Straßen kartiert. Mithilfe von 3D-Technik schafften Ingenieure ein exaktes Abbild der Straßen mit all ihren natürlich gegebenen Faktoren wie etwa Auffahrten, Sperrzonen et ceterea. Der autonome Lkw selbst nutzt die Kartierung als Orientierungshilfe – ohne sie kann er nicht fahren.
Neben den Sensoren wurde der Cascadia mit zusätzlichen Bauteilen ausgestattet. Das Stichwort: Redundanz. Fällt ein System während der autonomen Fahrt aus, muss ein anderes einspringen. So gibt es etwa zwei unabhängige Bremssysteme, zwei aktive Lenk-Controller und ein verstärktes Stromnetz, das die Technik an Bord am Leben erhält.
Im Moment sind alle autonomen Cascadias aber noch im Testmodus und folglich mit Menschen an Bord unterwegs. Auf dem Fahrersitz nimmt der sogenannte IFTD (In-Vehicle Fallback Testdriver) Platz – ein über Monate hinweg speziell ausgebildeter Fahrer, der in einem mühsamen Auswahlprozess zunächst Eigenschaften wie seine Reaktionszeit unter Beweis stellen musste. Nebenan sitzt der sogenannte Safety Conductor, der den Test leitet und dokumentiert.
Autonomes Fahren - Entwicklung
BildergalerieTest auf offener Straße
Wir werden eingeladen, eine offizielle Probefahrt an Bord zu begleiten. In der äußerst geräumigen Kabine des Cascadias wird uns ein Platz hinter Jeremy, dem IFTD, zugewiesen. Neben uns steht ein kühlschrankgroßer Kasten, in dem die Steuerelektronik des Lkw installiert ist. Auf dem Beifahrersitz nimmt Jane Platz, die mit einem großen Tablet auf dem Schoß alle Ereignisse während der Fahrt festhalten wird. "Sagt Bescheid, wenn ihr euch unwohl fühlt", gibt uns Jane noch mit auf den Weg - danach dürfen wir die beiden nicht mehr ansprechen, bis die Fahrt vorüber ist.
Jeremy lenkt den Freightliner Cascadia zunächst manuell vom Hof, danach geht es auf den vielbefahrenen Highway, wo der Lkw endlich in den autonomen Modus geschaltet wird. Blaues Licht erfüllt den Dachhimmel, eine kleine Anzeige erscheint auf dem Monitor neben uns: Ab sofort ist der Lkw auf sich alleine gestellt. Auch wenn Jeremy noch die Hände am Lenkrad hat, fährt der Lkw nun mit dem Virtual Driver -–eine Bewegung oder ein Tritt auf die Pedale und der autonome Modus wird sofort gestoppt.
Jane und Jeremy sind hochkonzentriert und beobachten gebannt den umliegenden Verkehr. Immer wieder sprechen sie bestimmte Situationen an, kontrollieren, was der Lkw erkennt, und bestätigen sich gegenseitig in ihren Annahmen. An Bord gilt ein strenges Sechs-Augen-Prinzip: vier menschliche und zwei virtuelle.
Brenzlige Momente
Auf einem riesigen Bildschirm neben unserem Sitzplatz sehen wir, was die 30 Sensoren rund um den Lkw aufzeichnen: In einem Umkreis von rund 50 Metern sind alle erdenklichen Gegenstände, ja sogar Linien, Ampeln und Logos zu erkennen. All dies rechnet der Virtual Driver in seine Fahrt mit ein.
Auf der Spur neben uns wird plötzlich ein großer grüner Punkt angezeigt, was bedeutet: Der Lkw will sich dort einfädeln. Er wartet, bis uns ein von hinten nahendes Fahrzeug überholt hat und zieht dann vorsichtig auf die Spur. Das, so sagen es die Ingenieure, ist eines der schwierigsten Manöver, welches viele tausende Male in verschiedenen Konfigurationen getestet wird.
Plötzlich lenkt vor uns ein Pick-up auf die Spur. Wahrscheinlich war der Fahrer am Handy oder anderweitig abgelenkt, denn er fährt mit zwei Rädern auf unserer und mit den anderen beiden auf seiner Seite. Der Freightliner reagiert cool und reduziert augenblicklich den Abstand.
Doch dann kommt ein Moment, den der Virtual Driver nicht abschätzen kann: die Situation, die bereits am Anfang des Artikels beschrieben wurde: Ein langsamer Lkw will sich vor uns auf den Highway einsortieren – fahren beide Lastwagen unverändert weiter, kommt es zur Kollision. Nachdem der autonome Fahrer nicht reagiert, wird Jeremy die Sache zu brenzlig und er übernimmt kurzerhand die Kontrolle über den Lkw.
Die blauen Lichter erlöschen, begleitet von einem dreifachen Piepton, welcher die Deaktivierung des autonomen Modus anzeigt. "Das war ein super Event!", freut sich Jane, die sofort Notizen in ihr Tablet tippt. Diese Momente – oder eben Events auf der Straße – sind Gold wert, denn später können Ingenieure anhand der Log-Daten die Situation am PC simulieren und dem Virtual Driver erklären, wie er beim nächsten Mal zu reagieren hat.
Vay Autonomes Fahren
BildergalerieEin weiter Weg
Daran zeigt sich, wie groß der eigentliche Lernprozess ist: Der Virtual Driver ist nicht mehr als ein Kind, das sich mit rudimentärsten Situationen vertraut machen muss. "Wenn wir uns absolut sicher sind, werden wir die Lkw erst nur noch mit einem Fahrer und dann völlig alleine fahren lassen", sagt Peter Vaughan Schmidt. Auf ein Datum will sich der CEO dabei nicht festlegen, wenngleich bis 2030 die ersten Lkw autonom fahren sollen. Sicherheit, das hört man bei Gesprächen mit den Ingenieuren von Torc in fast jedem Satz, hat die absolute Priorität. Man kann es sich nicht leisten, einen Unfall auch nur zu riskieren, denn dann wäre das Vertrauen in die Technik dahin. Es gilt das Credo: Erst wenn man sich selbst in einem Auto neben einem autonomen Lkw wohlfühlen würde, kann man auf Menschen verzichten.
Warum braucht es überhaupt autonome Lkw? Diese Frage lässt sich in den USA mit einem Wort beantworten: Personalmangel. Es fehlen rund 80.000 Fahrer – die Zahl dürfte sich bis 2030 laut Schätzungen von Daimler Truck verdoppeln. Zeitgleich erwartet man, dass sich die Frachtmenge in dem Zeitraum verdoppeln wird.
Wie sieht die Zukunft aus?
Wenn es nach den Plänen von Daimler Truck und Torc Robotics läuft, dann werden bis 2030 rund sechs Prozent der amerikanischen Transporte von autonomen Fahrzeugen erledigt. Langfristig soll sich ein Netz aus Hubs aufbauen, wobei in dieser Frage vor allem die Logistikdienstleister gefragt sind. Ideal wäre, so heißt es bei Torc, wenn etwa alle vier Fahrstunden ein Umschlaglager zu finden sei. Autonome Lkw sind in der Anschaffung zwar teurer als personengelenkte Fahrzeuge, der Business Case soll sich aber vor allem durch die vielen Fahrten rechnen.
Bis die Freightliner Cascadias nur noch mit Virtual Driver und fernüberwacht fahren, werden noch ein paar Jahre vergehen. Für den kindsartigen Virtual Driver gibt es noch viele Lektionen zu lernen. Und so hofft man bei Daimler Truck und Torc Robotics auf recht ungewöhnliche Dinge: heiße Sommer, kalte Winter und möglichst verrückte Autofahrer.
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Karl Seiler