_ Jeder Arbeitnehmer hat Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz. Stellt der Mindesturlaub also eine schadensersatzbewehrte Arbeitsschutzbestimmung dar, für deren Einhaltung einseitig der Arbeitgeber zu sorgen hat? So die Meinung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg.
Arbeitsschutzrecht und Verantwortungsbereiche
Die Pflichten des Arbeitgebers zum Arbeitsschutz sowie die diesbezüglichen Pflichten und Rechte der Beschäftigten sind grundsätzlich im Arbeitsschutzgesetz von 1996 geregelt. Hiernach ist der Arbeitgeber ganz allgemein verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung derjenigen Umstände zu treffen, welche die Sicherheit und die Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Die Einhaltung des Arbeitsschutzes betrifft also den Verantwortungsbereich des Arbeitgebers. In Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten hat der Unternehmer sogar einen oder mehrere Sicherheitsbeauftragte zu bestellen.
In der Folge des gesetzlichen Auftrags zum Arbeitsschutz wurden vielfache Gesetze und Verordnungen erlassen. Beispielhaft seien neben dem Arbeitsschutzgesetz benannt:
- Arbeitssicherheitsgesetz
- Arbeitszeitgesetz
- Gerätesicherheitsgesetz
- Arbeitsstättenverordnung
- Gefahrstoffverordnung
- Bildschirmarbeitsplatzverordnung
- PSA-Benutzungsverordnung (persönliche Schutzausrüstung bei der Arbeit)
Daneben sind vielfache europäische Richtlinien sowie amtlich anerkannte technische Regeln zu beachten. Würde man die einzelnen Bestimmungen zum Arbeitsschutz für die verschiedenen Branchen in einer Liste aufzählen, käme man auf weit über 50 Positionen. Der Arbeitsschutz ist also für den Unternehmer keine leicht zu bewältigende Aufgabe. Zwar betreffen die Arbeitsschutzvorschriften zunächst und vordergründig das Verhältnis zwischen dem Unternehmer und dem Staat. Zunehmend werden die Arbeitsschutzvorschriften allerdings auch auf das individuelle Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer angewandt. Dies hat zur Folge, dass bei Nichteinhaltung der Arbeitsschutzvorschriften dem Arbeitnehmer ein Leistungsverweigerungsrecht oder sogar ein Schadensersatzanspruch zustehen kann. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg hat in zwei Urteilen (Az. 10 Sa 86/15 und 21 Sa 221/14) entgegen der bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass der gesetzliche Mindesturlaub dem Gesundheitsschutz der Beschäftigten dient und arbeitsschutzrechtlichen Charakter hat. Folgt man dieser Meinung, ist es daher einseitige Verpflichtung des Arbeitgebers darauf zu achten, dass der Urlaub vom Arbeitnehmer auch tatsächlich genommen wird. Ergibt sich hieraus eine grundsätzliche Änderung für das Urlaubsrecht?
Urlaubsrecht im Wandel
Zuvorderst ist festzustellen, dass das Urlaubsrecht seit etlichen Jahren einem ständigen Wandel unterworfen ist. Federführend hierfür ist der Europäische Gerichtshof (EuGH), der das Urlaubsrecht vieler EU-Länder in Teilbereichen geradezu auf den Kopf gestellt hat. Der EuGH geht bei seiner Rechtsprechung von der "Europäischen Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung" aus. Nach Artikel 7 dieser Richtlinie haben die EU-Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen erhält. Richtliniengemäß darf der Mindestjahresurlaub - außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses - nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.
Vier Wochen
Es dürfte jedem das durchaus praxisrelevante Urteil des EuGH vom Januar 2009 (Aktenzeichen C-350/06) in Erinnerung sein, wonach der Mindesturlaubsanspruch von vier Wochen auch dann nicht verfällt, wenn der Arbeitnehmer das ganze Jahr arbeitsunfähig krank war und nicht einen einzigen Tag gearbeitet hat. Dieses Urteil widersprach (und widerspricht noch immer) der gesetzlichen Regelung im Bundesurlaubsgesetz (BUrlG). Nach § 7 Abs. 3 BUrlG muss der Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist danach nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen; im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des Folgejahres gewährt und genommen werden, anderenfalls - so die deutsche gesetzliche Regelung - verfällt der Urlaub ersatzlos.
Lange Frist
Aufgrund des oben zitierten EuGH-Urteils wird das Bundesurlaubsgesetz in dieser Textgestaltung des § 7 Abs. 3 BUrlG von der deutschen Rechtsprechung bei einer Langzeiterkrankung allerdings nicht mehr angewandt: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat für das BUrlG eine "europarechtskonforme Auslegung" vorgenommen, wonach der Anspruch auf den Mindesturlaub nunmehr erst 15 Monate nach Schluss des Urlaubsjahres verfällt. Einen Kurswechsel hat die deutsche Urlaubsrechtsprechung aufgrund von Entscheidungen des EuGH auch für etliche andere Fallgestaltungen vorgenommen. So gibt es nunmehr bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Tod des Arbeitnehmers für dessen Erben gegenüber dem vormaligen Arbeitgeber einen Urlaubsabgeltungsanspruch (EuGH vom 12.6.2014, C-118/13).
So ist der Mindesturlaub keine Gegenleistung für eine vom Arbeitnehmer erbrachte Arbeitsleistung, sondern die (Urlaubs-)Freistellung ist eine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers aus dem Arbeitsverhältnis ohne sonstige Voraussetzungen (EuGH vom 24.1.2012, C-282/10).
So bleibt bei einer Reduzierung der Arbeitszeit von Vollzeit auf Teilzeit der zu diesem Zeitpunkt noch nicht genommene Urlaub als Vollzeit-Urlaub bestehen, eine Umrechnung auf Teilzeit-Urlaubstage findet nicht statt (EuGH vom 13.6.2013, C-415/12). Steht nunmehr im Hinblick auf die oben zitierten Urteile des LAG Berlin-Brandenburg auch eine grundsätzliche Neubewertung des gesetzlichen Mindesturlaubs in Richtung einer Arbeitsschutzbestimmung ins Haus? Sicherlich wird sich auch hier der EuGH zu gegebener Zeit positionieren, wobei es keine Überraschung sein wird, wenn hierbei die rechtliche Sichtweise des LAG Berlin-Brandenburg übernommen wird.
BAG: Eigenverantwortung des Arbeitnehmers
Zunächst ist festzuhalten, dass sich das LAG Berlin-Brandenburg im Widerspruch zum BAG befindet. Es ist dessen ständige und bis heute gültige Rechtsprechung sowohl zum gesetzlichen Mindesturlaub wie auch zum zusätzlichen vertraglichen Urlaub (beispielsweise Urteil vom 15.9.2011, Az. 8 AZR 846/09), dass es in die Eigenverantwortung des Arbeitnehmers fällt, Urlaubswünsche anzumelden.
Der Paragraf 7 Abs. 1 BUrlG bestimmt, dass bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen sind - es sei denn, dem Urlaubswunsch würden dringende betriebliche Belange entgegenstehen. Aus dieser gesetzlichen Bestimmung folgt allerdings nicht - so das BAG -, dass der Arbeitgeber verpflichtet wäre, den Arbeitnehmer von sich aus nach seinem Urlaubswunsch zu fragen oder diesen ausdrücklich anzuhören. Der Arbeitgeber ist auch nicht verpflichtet, von sich aus einen Urlaubszeitraum zu bestimmen; hat er dies allerdings getan und äußert der Arbeitnehmer keinen anderweitigen Urlaubswunsch, so ist die zeitliche Festlegung des Urlaubs rechtswirksam und der Arbeitnehmer ist hieran gebunden. Hat der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr nicht verbrauchten Urlaub nicht angemeldet und existieren keine Gründe für eine Übertragung des Urlaubs ins nächste Jahr (Krankheit, Urlaubssperre oder Ähnliches), so verfällt der Urlaub ersatzlos zum Jahresende. Jedenfalls für den gesetzlichen Urlaub ist das LAG Berlin-Brandenburg anderer Meinung.
LAG Berlin-Brandenburg: Eigenverantwortung des Arbeitgebers
Ein Arbeitgeber ist nach Meinung des LAG Berlin-Brandenburg verpflichtet, einem Arbeitnehmer dessen Urlaub auch ohne vorherige Aufforderung rechtzeitig zu gewähren. Dies - so das LAG - ergebe sich aus der Auslegung des BUrlG unter Berücksichtigung der EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Bereits der Wortlaut des § 7 Abs. 3 S. 1 und Abs. 3 BUrlG, wonach der Urlaub innerhalb des dort vorgegebenen Zeitraums "zu gewähren und zu nehmen" ist, deute darauf hin, dass ein Arbeitgeber von sich aus und nicht erst nach entsprechender Aufforderung gehalten sei, den Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub zu erfüllen.
Das LAG liest also die Bestimmung des BUrlG exakt konträr zum BAG. Die Urteilsbegründung des LAG im Verfahren 10 Sa 86/15 weiter: Sowohl nach deutschem Recht als auch nach dem Unionsrecht dient der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub dem Gesundheitsschutz der Beschäftigten. Für das Arbeitsschutzrecht wiederum ist anerkannt, dass der Arbeitgeber seinen Pflichten zum Gesundheitsschutz der bei ihm Beschäftigten auch ohne vorherige Aufforderung nachzukommen hat. Die Gewährung des Urlaubs nach dem BUrlG steht also in der Eigenverantwortung des Arbeitgebers. Kommt er dieser Verantwortung nicht nach und nimmt der Arbeitnehmer seinen Mindesturlaub nicht im Urlaubsjahr, so entsteht für ihn ein Schadensersatzanspruch, den der Arbeitgeber in Form von Ersatzurlaub - oder im Fall des Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis durch finanzielle Abgeltung - zu befriedigen hat.
Empfehlung
Zur Streitvermeidung ist deshalb jedem Arbeitgeber rein vorsorglich zu empfehlen, den Urlaub aktiv in Abstimmung mit den Arbeitnehmern zu verteilen. Im Zweifelsfall hat der Arbeitgeber den Urlaub per Direktionsanweisung festzulegen. Arbeitsverträge sind zu überprüfen und gegebenenfalls textlich zu ergänzen. Verstöße gegen Arbeitsschutzbestimmungen sind im Einzelfall mit Bußgeldern belegt.
- Ausgabe 04/2016 Seite 74 (115.8 KB, PDF)