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Stickoxid-Debatte: Den Nagler am Kopf getroffen

03.08.2015 13:50 Uhr
Diesel Stickoxid Debatte
Millionen Autofahrer setzen auf den Diesel und seine Sparsamkeit.
© Foto: Bosch

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Von Heiko Haupt/SP-X

Der Diesel, die Umwelt und die Gesundheitsrisiken – das ist eine unendliche Geschichte. Tatsächlich ist bereits sehr früh ein Mensch nachweislich am Dieselmotor zugrunde gegangen: Rudolf Diesels Gesundheit war nach jahrelangen Patentstreitigkeiten um den 1897 vorgestellten Motor am Ende, auch geschäftlich lief es nicht gut. Während einer Schifffahrt nach London stand er 1913 vom Esstisch auf und verschwand – die aus dem Wasser geborgene Leiche wurde Wochen später von seinem Sohn identifiziert. Von Selbstmord war die Rede, doch die tatsächlichen Umstände des Todes konnten nie geklärt werden.

Auch heute wird in Sachen Diesel wieder häufig argumentiert, man kenne die Wahrheit, was aber eben nicht immer der Fall ist. Ursprung der aktuellen Diskussionen um Stickoxide (NOx) und Dieselmotoren ist ein Mahnschreiben der EU-Kommission das besagt, Deutschland habe seine Pflicht zur Reinhaltung der Luft in Innenstädten vielfach nicht erfüllt. Vor allem die Grenzwerte für Stockstoffdioxid (NO2) seien zwischen 2010 und 2013 an zahlreichen Orten nicht eingehalten worden. Am 18. Juni wurde daher ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Als Maßnahme zur Lösung des Problems schlug die Kommission unter anderem vor, dass Dieselfahrzeuge in bestimmten Stadtgebieten verboten werden. Weil eben vor allem Diesel die gesundheitsgefährdenden Stickoxide ausstießen. Speziell NO2 gilt als eine Vorstufe von Ozon, die Atemwegserkrankungen verursachen kann.

Eigentlich hätten die Autohersteller an dieser Stelle darauf verweisen können, dass ja mit der Euro 6 gerade eine neue Abgasnorm in Kraft getreten ist, die seit Herbst 2014 für neue Modellreihen, und ab dem 1. September 2015 für alle neu zugelassen Fahrzeuge gilt: Mit der wurde die maximale Menge an Stickoxiden pro Kilometer beim Diesel von bislang 180 auf nun nur noch zulässige 80 Milligramm (mg) verringert. Was schon sehr nahe am Benziner ist, bei dem die Grenze mit 60 Milligramm angegeben wird. Zum Vergleich: Bei der Abgasnorm Euro 3 durften Diesel noch 500 und Benziner 150 mg ausstoßen.

Technische Maßnahmen waren nötig

Um die aktuellen Werte überhaupt zu erreichen, waren umfangreiche technische Maßnahmen nötig. Vor allem der Einsatz von sogenannten SCR-Katalysatoren. SCR steht für Selective Catalytic Reduction beziehungsweise Selektive Katalytische Reduktion: Zur Reduzierung der Stickoxide wird dem Abgas schlicht gesagt Ammoniak beigemischt, das durch chemische Reaktion den Anteil von NO und NO2 verringert. Für die in Autos verwendete, synthetisch hergestellte Substanz hat sich der Verband der Automobilindustrie (VDA) den Markennamen AdBlue gesichert – in der Öffentlichkeit wird verbreitet allerdings einfach von Harnstoff gesprochen.

Doch damit war eben längst nicht alles gut. Organisationen wie das International Council of Clean Transportation (ICCT) unterzogen Diesel-Fahrzeuge mit Euro 6 einem Praxistest. Der ergab, dass die theoretischen Werte im realen Straßenverkehr eben nicht eingehalten wurden. 15 Fahrzeuge wurden 140 Stunden und 6.400 Kilometer im Alltag bewegt, und stießen dabei im Schnitt sieben Mal mehr Stickstoff aus, als es die Norm vorsieht – statt 80 Milligramm also mehr als 500 Milligramm und damit Euro 3-Niveau. Denn wie bei den viel diskutierten Verbrauchsangaben wird auch der Schadstoffausstoß immer noch unter Laborbedingungen ermittelt, die mit der Realität kaum etwas zu tun haben.

Bis hierhin kommt der moderne Diesel also nicht gut weg. Doch auch kritische Fachleute warnen davor, den Diesel nun einfach zu verdammen. "Der Diesel ist nicht per se dreckig", erklärt etwa Gerd Lottsiepen, verkehrspolitischer Sprecher des ökologisch orientierten Verkehrsclub Deutschland (VCD). Das Problem beruhe vielmehr eben auf den unrealistischen Messmethoden, die für die Autos vorgeschrieben sind.

RDE ist beschlossen

"Reale Messungen im Verkehr sind wichtig", so Lottsiepen. Die Zukunft der Abgasmessungen dreht sich daher um die drei Buchstaben RDE. Die stehen für Real Driving Emissions, also eben die Messung der Abgase im realen Fahrbetrieb. Schließlich stößt so ein Diesel speziell beim Beschleunigen oder bei hohem Tempo wesentlich mehr Stickoxide aus, als es unter Laborbedingungen der Fall ist. RDE ist inzwischen tatsächlich von der EU beschlossen, allerdings sind noch Details zu den Messverfahren zu klären – mit der Umsetzung wird 2017 gerechnet. Gefordert haben die neuen Messverfahren übrigens nicht nur Umweltschützer. Auch Rolf Bulander, Vorsitzender des Unternehmensbereichs Mobility Solution beim Zulieferer Bosch, sagte zu dem Thema: "Verbrenner und insbesondere Diesel müssen zukünftig auch bei starkem Beschleunigen und hohen Geschwindigkeiten sauber sein."

Dorothee Saar, Leiterin Verkehr und Luftreinhaltung bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH) in Berlin, erklärt ebenfalls, dass im Grunde nicht der Euro-6-Diesel das Problem ist, sondern die Art wie mit ihm umgegangen wird, beziehungsweise wie seine Abgase gemessen werden. So ist der Diesel in den USA zwar bis heute ein Nischenprodukt, doch was die Hersteller dort ausliefern, ist deutlich sauberer als der Diesel bei uns. Weil dort nämlich längst realistische Messmethoden Alltag sind, und weil die Behörden die Angaben der Hersteller immer wieder auch nachprüfen. Laut dem ADAC ist ein US-Diesel inzwischen etwa 25 Mal sauberer als einer, der in Deutschland angeboten wird.

Hinzu kommt laut Michael Niedermeier vom ADAC noch ein anderer Faktor, der den Schadstoffausstoß moderner Diesel bei uns beeinträchtigt. Über die SCR-Systeme müsste AdBlue dem aktuellen Fahrzustand entsprechend zugemischt werden – also etwa beim Beschleunigen oder bei hohem Tempo deutlich mehr. "Die Hersteller möchten aber größere Wartungsintervalle, und sie möchten, dass die Tanks für AdBlue dazwischen nicht vom Autofahrer selbst nachgefüllt werden müssen." Auch wenn es niemand offen sagt, kann das also dazu führen, dass der Einsatz von AdBlue auch in Situationen auf Sparflamme gefahren wird, in denen eigentlich das Gegenteil erforderlich wäre.

Probleme machen die vielen alten Fahrzeuge 

Das eigentliche Problem sind aber trotz bislang zweifelhafter Messmethoden und Sparsamkeit bei der Zumischung gar nicht die neuen Diesel, sondern die vielen alten Fahrzeuge, die nicht mit moderner Abgasreinigung ausgerüstet sind. Im Jahr 2014 wurden laut dem Kraftfahrtbundesamt (KBA) 435.462 Neuwagen mit Euro-6-Diesel zugelassen – der Gesamtbestand an Diesel-Pkw allerdings lag bei 13.806.836 Fahrzeugen. Von Januar bis Juni 2015 wurden weitere  421.738 Neuzulassungen von Euro 6-Dieseln gemeldet, aber auch immer noch 355.859 neue Diesel, die nur Euro 5 erfüllten.

Bis neue Technologien wie der SCR-Kat auch bei veränderten Messbedingungen spürbaren Einfluss auf die Umwelt haben, wird es also noch eine ganze Weile dauern. "Zudem sind Fahrzeuge zwar eine Quelle von Stickoxiden, aber lange nicht die einzige", sagt Dr. Michael Krüger, Chefentwickler für Dieseltechnologie bei Bosch. Der gesamte Verkehr – also Autos, Busse, LKW und sogar Loks und Schiffe – ist  in Europa für 46 Prozent der NOX Emissionen in Europa verantwortlich. Mit rund 54 Prozent der Emissionen liegen Energieerzeugung, Industrie und auch Haushalte gleichauf.

Abgesehen davon ist es ein Fehler, den Diesel auf die aktuelle Stickstoff-Debatte zu reduzieren. Vergessen wird dabei nämlich noch ein anderes wichtiges Thema: CO2. Bis zum Jahr 2021 – also in knapp sechs Jahren – müssen die Autohersteller bei ihren Modellpaletten einen Grenzwert von maximal 95 Gramm CO2 pro Kilometer erreichen, den sogenannten Flottenverbrauch. Schon in diesem Jahr liegt die Grenze bei 130 Gramm. Zwar sank der CO2-Ausstoß zwischen 2009 und 2014 um 12,8 Prozent auf 134,5 Gramm pro Kilometer. Doch weitere Senkungen werden immer langsamer erreicht, und dann auch nur mit meist immensem Aufwand. VW-Chef Martin Winterkorn wurde unlängst mit der Aussage zitiert, jede weitere Einsparung von einem Gramm CO2 würde den Konzern 100 Millionen Euro kosten.

Grenzwerte ohne Diesel nicht erreichbar

Vor allem aber sind die geforderten Grenzwerte bis 2021 ohne den Diesel gar nicht zu schaffen, da sind sich die Experten einig. Denn der CO2-Ausstoß wird auf Basis des Verbrauchs errechnet und der Diesel verbraucht im Schnitt bis zu 25 Prozent weniger.

Beim modernen Diesel nur auf das Thema Stickoxid zu verweisen, ist daher höchstens die halbe Wahrheit. Was der Diesel braucht, sind realistische Messmethoden, und dazu SCR-Systeme, die in jedem Fahrzustand den Stickoxid-Ausstoß zuverlässig reduzieren. Und dann muss dem Autofahrer noch klargemacht werden, dass Harnstoff nichts mit Urin zu tun hat – weil sich dann eben niemand vor dem Nachfüllen ekeln würde. Tatsächlich müsste ein Mensch eigentlich nur in das Badezimmer gehen, um die Scheu vor dem Stoff zu verlieren. Denn Millionen Deutsche schmieren sich täglich von oben bis unten mit genau diesem Harnstoff ein. Der wird nämlich auch in der Kosmetik verwendet, etwa bei Feuchtigkeitscremes – nur trägt er dort die Bezeichnung Urea.

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