Wie funktioniert Mobilität in zehn oder 20 Jahren, in welche Projekte sollten die Investitionen der Autoindustrie am sinnvollsten fließen? Bei diesen Fragen geht es um das Wohl und Wehe der Unternehmen – und um sehr viel Geld. So gibt etwa Mercedes jährlich sieben bis acht Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung aus. Was mit dieser Riesensumme erforscht und entwickelt wird, ist normalerweise streng geheim. Doch jetzt haben die Stuttgarter einen Einblick in ihre Arbeit ermöglicht. Und Eileen Böhme, Chefin des Teams für Innovation und Zukunftstechnologien bei Mercedes, gab dabei mit der Devise "Fortschritt muss Spaß machen" schon mal die Richtung vor.
Mit AR-Brillen im Mercedes
Ein gutes Beispiel für Freude am Forschen ist das Projekt zur Integration von Augumented Reality-Brillen ins Autofahrer-Leben. Der Plan: Die Auto-Nutzenden steigen mit ihren eigenen AR-Brillen in den Benz und können so ihr eigenes Kommunikations- und Infotainment-Ökosystem mit dem ihres Fahrzeugs kombinieren. Wie so etwas aussehen könnte, zeigt eine Probefahrt auf dem Beifahrersitz. Zunächst werden per AR-Brille mithilfe von Abbiegepfeilen wie bei Head-up-Displays mit Augumented Reality-Technik und, etwas verspielter, mit glitzernden Sternenschnüren Infos zum Streckenverlauf und Informationen zu Geschäften und Attraktionen im Umfeld ins Sichtfeld gerückt. Nach einem virtuellen Druck auf den "Entertainment"-Knopf wird der Sitz rechts vorne zum Kinosessel mit Massagefunktion, und formatfüllend rauscht ein rasanter Ausschnitt aus einem "Ghostbuster"-Film über den Copiloten hinweg, begleitet von beeindruckenden Dolby Surround-Klängen. "Mission erfüllt", könnte man angesichts Eileen Böhmes Forderung nach Spaß durch Innovation sagen.
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Ebenfalls mindestens so unterhaltsam wie informativ ist das folgende Kapitel, bei dem Virtual und Augumented Reality zur Mixed-Reality (MR) kombiniert werden. Mit den entsprechenden Brillen auf der Nase und unterstützt von Echtzeit-Game-Rechnern könnten Kunden schon in wenigen Jahren ihr künftiges Auto im eigenen Wohnzimmer detailgetreu, dreidimensional und in Originalgröße konfigurieren. Ein Fingerschnipsen, und die gewünschte Farbe wird angezeigt. Noch ein Fingertipp, die Tür oder der Kofferraumdeckel öffnet sich. Die künstliche Intelligenz ermöglicht es sogar, sich auf einem Küchen- oder Bürostuhl hinters virtuelle Steuer des Wunschautos zu setzen. Oder sich den Avatar eines Verkäufers im kilometerweit entfernten Autohaus zur Hilfe zu holen und mit ihm einen Beratungs-Rundgang um das Objekt der Begierde zu machen.
Der nächste Schritt in Richtung Zukunft könnte Menschen mit sensiblem Naturell fast schon ein bisschen überfordern. Denn beim "hyperpersonalisierten Kundenerlebnis" mischen sich mit Hilfe des Mixed-Reality-Headsets die Künstliche Intelligenz (KI) und ihre Algorithmen sehr nachdrücklich auch in den privaten Alltag ein. Beim Hersteller mit Stern formuliert man das so: "Das künftige Mercedes-Benz-Modell lernt seine Fahrerin und seinen Fahrer mit allen Gewohnheiten noch besser kennen. Es soll Gemütszustände sowie Bedürfnisse erkennen und als unterstützender Begleiter durch den Tag fungieren."
Alles im Auto ist individuell eingestellt
Das bedeutet, wie beim Blick in die Forscher-Studios praktisch und virtuell demonstriert, beispielsweise einen Tagesablauf, der flächendeckend mit jeder Menge an KI unterfüttert ist. Das reicht vom Blick auf die Börsenkurse und den Terminkalender durch die AR-Brille beim morgendlichen Kaffeetrinken über die Fahrt ins Büro und retour bis in den Feierabend. Der Wagen fährt zum gewünschten Zeitpunkt vollautomatisch vor die Haustür. Temperatur, Radiosender und -lautstärke im Auto sind bereits individuell programmiert, der Virtual Assistent schlägt das plausibelste Navigationsziel vor – am Werktag also das Büro. Ein Tastendruck am Lenkrad, und das Auto schaltet auf den autonomen Fahrmodus um, stellt den Fahrersitz dazu passend ein und bringt per Sprachsteuerung wieder das Browserfenster mit der Börsen-App ins Blickfeld. Die KI kennt die Wünsche und Bedürfnisse des Nutzers und wird zum allseits bereiten und beflissenen Butler und Alltags-Assistenten.
Das kann man cool und sinnvoll finden oder auch nicht. Fest steht jedenfalls: Alle diese Funktionen erfordern eine immense Rechenleistung – und damit viel Energie. Mit rund 3.000 Watt beziffern die Mercedes-Spezialisten etwa den Stromverbrauch beim autonomen Fahren auf Level 4. Dabei muss sich der Mensch im Wagen auf definierten Strecken nicht mehr zum Eingreifen bereithalten, kann arbeiten, Filme schauen oder ein Nickerchen machen. Die Zielvorgabe der Forscher in puncto Energieverbrauch: Mehr als 300 Watt sollen diese anspruchsvollen autonomen Fahrfunktionen mittelfristig nicht mehr verschlingen – also gerade noch ein Zehntel des jetzigen Wertes.
Möglich machen soll das das sogenannte Neuromorphic Computing (NC), bei dem das vorbildlich effizient arbeitende menschliche Gehirn nachgebildet wird. Die NC-Systeme können KI-Berechnungen deutlich effizienter und schneller durchführen als herkömmliche Rechner. Zudem können die damit verknüpften Sicherheitssysteme im Auto Verkehrsschilder, Fahrspuren oder andere Verkehrsteilnehmer auch bei schlechter Sicht besser erkennen und schneller reagieren. "Die Hardware dafür sollte in den 2030er Jahren verfügbar sein", heißt es von den Ingenieuren.
Solar-Lack wandelt Licht in Strom um
Weitere Themen beim Blick in die sonst strikt abgeschirmten Forschungs-Labors: Ein Solar-Lack, der mit dem gleichen Wirkungsgrad wie ein herkömmliches Solarpanel Licht in Strom umwandelt. Der wird entweder gleich beim Fahren verbraucht oder in den Akku eingespeist. Oder neuartige Bremsen, die nicht mehr in den Rädern platziert sind, sondern links und rechts in den Motor-Getriebe-Block des E-Autos integriert werden. Dort sollen sie praktisch wartungsfrei ein Autoleben lang ihre Arbeit verrichten.
Oder biotechnologisch erzeugtes Leder aus Kunststoff-Rezyklat und zertifiziertem Biomethan, das optisch nicht von Naturleder zu unterscheiden ist und in seinen Eigenschaften wie Haltbarkeit und Elastizität das Original deutlich übertrifft. Auch bei künstlicher Seide aus von gentechnisch veränderten Bakterien produzieren Seidenproteinen sind die Mercedes-Spezialisten schon kurz vor der Zielgeraden – dem Serieneinsatz.
Auf welche Welt die neue Technik einmal treffen wird, wie sich speziell die urbane Mobilität in den nächsten 15, 20 Jahren verändern wird – auch diesen Fragen geht man bei Mercedes intensiv nach. Ein globales Netzwerk aus Soziologen und Philosophen, Wissenschaftlern, Futuristen und Architekten, aus Start-ups und Hightech-Unternehmen ist den technischen und sozialen Innovationen in den Metropolen auf der Spur, um Orientierungshilfen für die Entwickler zu erarbeiten. Auf den Erkenntnissen des Forschungsnetzwerks basierende Zukunftsbilder zeigen, wie sich Digitalisierung und Klimawandel die Städte 2040+ auswirken könnten.
Diese Darstellungen wirken ein bisschen wie Wimmelbilder für Erwachsene, sie zeigen beispielsweise Straßenszenen aus London, Los Angeles und aus der chinesischen Multi-Millionen-Kommune Shenzhen. Die Unterschiede in den Szenarien sind gravierend. Das ist ein Hinweis darauf, dass Autohersteller künftig mit einem Einheits-Portfolio nicht mehr global erfolgreich sein können. Jeder Markt erfordert speziell darauf zugeschnittene Lösungen. "Die Trends laufen auseinander", konstatiert Mercedes-Entwicklungsvorstand Markus Schäfer. Innovations-Chefin Eileen Böhme ist sich gerade deswegen sicher: "Das spannendste Kapitel des Automobils kommt noch."