Wir sitzen im Esszimmer von Walter Dresscher. Er ist um die 40 und lebt mit Frau und zwei Kindern mitten in Den Haag. Er liebt es, die Möglichkeiten, die eine große Stadt am Meer bietet, auszuschöpfen. Er kennt aber auch die Herausforderungen, die eine Stadt mit mehr als einer halben Million Einwohner mit sich bringt - verkehrstechnisch. Dresscher träumt davon, Utopia, also den imaginären Ort oder Zustand der Dinge, in dem alles perfekt ist, zu realisieren.+
Dass diese Aufgabe unlösbar ist, ist ihm sehr wohl bewusst. Aber er meint, dass jeder wenigstens versuchen sollte, sein direktes Umfeld dahingehend positiv zu beeinflussen. Dresscher ist Architekt und sagt: "Ich verstehe, wie Städte funktionieren". Ein "müssten" könnte man hinten noch anstellen, denn der selbsternannte "Social Engineer" kümmert sich darum, das Miteinander zu verbessern - speziell hier in seinem Quartier.
36-Stunden-Tag
So reicht es Dresscher auch nicht, bei nur einem Projekt die Feder zu führen. Er ist einer von denen, die man beneidet, denn sein Tag hat offensichtlich 36 Stunden. Bei denatuurlijkestad.nl ist er einer der Akteure, die gemeinsam mit Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Gemeinden das Potenzial von (technischen) Innovationen für zukünftige Lebensräume aufzeigen. Dabei ist er aber keineswegs einer der Technikverblendeten. "Die größte Herausforderung ist heutzutage, dass viele Menschen glauben, dass es für alle Probleme eine technische Lösung gibt oder geben wird. Das glaube ich nicht."
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Er sagt, dass uns Technik helfen kann und uns in gewisser Weise auch smarter macht. Doch er ist auch davon überzeugt, dass ein Großteil der aktuell verfügbaren Technologie die Menschen dümmer macht und ihnen Handlungsspielraum nimmt."In vielen Fällen geben wir die Verantwortung an Unternehmen und den Staat ab. Das ist ein Fehler." Und er drückt es noch drastischer aus:"Mit diesem Weg kreieren wir eine Gesellschaft, die dick und dumm von der Couch aus ungesundes Essen bestellt und Mobilität per App bucht, ohne sich einen Meter selbst zu bewegen. Dabei ist der menschliche Körper darauf ausgelegt, sich 15 Stunden am Tag zu bewegen. Wir haben so viel Technik entwickelt und unsere Körper haben sich eben nicht angepasst. Die technische Entwicklung ist schneller als die des Menschen."
Man komme aus der einen Kapsel, gehe dann ein paar Schritte zur nächsten."Das ist eine Entwicklung, die mir echt Angst macht." Und das sei eine seiner Motivationen, Dinge zu ändern."Ich will sie gar nicht alle selbst ändern. Aber ich möchte, dass Menschen verstehen, was los ist und ich möchte, dass Konsumenten wieder zu selbstbestimmten Bürgern werden. Aus meiner Sicht existieren Bürger kaum noch."Wir sprechen überall nur noch über Konsumenten. Sogar die Regierung behandelt uns wie Konsumenten. In Holland reden wir über 'de zorg consument', also den pflegebedürftigen Konsumenten. Sogar im Gesundheitswesen sind wir also keine Menschen mehr, sondern Konsumenten."
Das passt, denn Krankenhäuser, Kitas, Alten- und Behindertenheime müssen alle vor allem eins: Geld verdienen.
Mobilitäts-Genossenschaft
Verdienen muss Deel nichts. Deel ist eine Mobilitäts-Genossenschaft, die nachbarschaftlich im eigenen Wohnviertel organisiert ist. Im Fokus steht das Automobil. Denn Walter Dresscher ist keiner, der das Auto verdammt. Auch er nutzt es, da sich einige Dinge im Alltag und Beruf nicht anders erledigen lassen. Aber er sagte sich, dass nicht jeder sein eigenes Auto benötigt, da es eben doch die meiste Zeit steht. Eine Veränderung der Mobilität und des Verkehrssystems sei aus seiner Sicht eine Lösung. Und er wolle nicht nur darüber reden, sondern etwas vorleben. So hat er mit Mitstreitern ein maßgeschneidertes Mobilitätsangebot im eigenen Viertel etabliert, das ihnen aufgrund der Genossenschaftsstruktur irgendwie selbst gehört. "Wir haben einen differenzierten Blick auf die Mobilität. Und wir haben vor allem keine Wachstumsagenda. Wir wollen Menschen die Möglichkeit geben, dass sie mobil bleiben, aber eben mit einer Lösung, die keine Probleme für andere kreiert, denn die eigene Entscheidung beeinflusst immer auch das Leben der anderen."
Seit Herbst 2020: Deel-Auto
Dresscher weiter:"Wenn du beispielsweise dein Kind mit dem Auto zur Schule fährst, stellst du eine potenzielle Gefahr für alle anderen Kinder dar, die mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Und wenn andere Eltern sehen, dass Fahrradfahren für Kinder aufgrund des Autoverkehrs und schlechter Stadtplanung zu gefährlich wird, werden auch sie ihre Kinder nicht mehr mit dem Fahrrad in die Schule fahren lassen." Deel bedeutet: Weniger Autos, mehr Motivation, Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen und bei Bedarf doch ein Auto nutzen zu können. Deel heißt übersetzt so viel wie Abschnitt oder Teil, Deel-Auto ist somit das Teil-Auto, das im im Herbst 2020 im Quartier gestartet ist. Laut Dresscher wurden die Städte, wie sie heute meist existieren, mit guten Absichten erdacht und umgesetzt. "Doch irgendwann, ich denke, das war in den 1970ern oder -80ern, sind wir falsch abgebogen." Vieles würde zu global gedacht und daher sei es lokal nur schwierig umsetzbar. "Lasst die Menschen sich um deren Viertel kümmern. Es muss nicht immer die Entscheidung des Bürgermeisters oder der Gemeinde sein. Denn je nach Stadtgröße kennen sie die Bedürfnisse des Straßenabschnitts oder Viertels gar nicht gut genug." Klar ist auch, dass nicht jeder solch ein Zeitinvest aufbringen kann oder will, wie es Walter Dresscher macht. "Aber es gibt genug, die es machen. Und vor allem dann, wenn du weißt, für wen du es machst: Für deine Nachbarn, deine Familie und letztendlich für dich. Dann wird das funktionieren. Wir müssen vom Großen wieder ins Kleine kommen. Und daher glaube ich nicht an globale Lösungen." Es geht ja auch nicht um die Neuerfindung des Rades.
1.500 km pro Monat
Das Rad, also im konkreten Fall das Auto, liefert Onze Auto."Onze Auto ist unser Automobilpartner. Sie wollten als Einzige mit uns zusammenarbeiten. Darüber sind wir sehr glücklich. Wir haben in unserem Viertel derzeit rund 40 Haushalte und 60 Fahrer, die sich acht Elektroautos teilen. Diese stehen an in Absprache mit der Gemeinde festgelegten Plätzen und haben alle einen eigenen Ladepunkt. Damit sind wir an der Kapazitätsgrenze." Dresscher führt weiter aus, dass je größer eine Gruppe wird, es komplizierter bis unmöglich wird, diese homogen zu halten. "Bei uns kennt jeder jeden. Mit 100 Personen funktioniert unsere Idee nicht mehr, denn wir wollen Autoverfügbarkeit garantieren. Sobald die Gruppe groß genug ist, das sind nach unserer Erfahrung rund vier Autos für mindestens 15 Fahrer, sollte man mit Hilfe der Genossenschaft ein eigenes Quartier ins Leben rufen."
Fährt jedes Auto pro Monat rund 1.500 Kilometer, rechnet es sich laut Dresscher für alle."Fahren wir weniger, wird es teurer. Die Autos müssen eben bewegt werden." Der Architekt ergänzt: "Gewinn sollten wir nicht machen, denn den müssten wir versteuern. Idealerweise kommen wir stets auf null raus. Natürlich investieren wir die Überschüsse in neue Projekte und Fahrzeuge, damit das System profitiert. Im Schnitt bezahlt bei uns ein Mitglied rund 180 Euro pro Monat für die Mitgliedschaft plus den Fahranteil. Einige fahren für rund 30 Euro im Monat, andere liegen bei 500 Euro. Das sind die Heavy-User." Wer mehr fährt, fährt mit dem eigenen Auto besser.
Von 30 bis 85 Jahre
Ebenso divers wie die Fahrprofile sind die Nutzer selbst: Die jüngste Nutzerin ist 30 Jahre alt, die älteste ist 85. Man kann die Autos auch tageweise buchen. All das ist über die Plattform justierbar, die von Wego Carsharing zur Verfügung gestellt wird. Sollten mal alle Fahrzeuge ausgebucht sein, können die Mitglieder auf andere Mobilitätslösungen/Anbieter zurückgreifen und sollten diese teurer sein, übernimmt Deel die Differenz - aber das kommt extrem selten vor.
All das führe zu einer funktionierenden Gemeinschaft, auf die man sich verlassen kann. Die Fahrzeuge seien stets sauber und wenn ein Missgeschick passiert, kümmert sich der Verursacher darum - als sei es der eigene Wagen. 25 Privat-Autos konnten durch Deel im Quartier entsorgt werden, acht Deel-Autos kamen hinzu, also in Summe 17 Autos weniger, die die Straßen nutzen und Parkplätze belegen.
Lange Laufzeiten rechnen sich
"Wir leasen die E-Autos für fünf Jahre und zahlen beispielsweise für den Renault Zoe 425 Euro im Monat bei 20.000 km Laufleistung im Jahr. Da Autos in Holland generell teurer sind, ist es bei uns wohl auch einfacher, Carsharing zu etablieren." Kaufen war keine Option, da Dresscher keine Versicherung finden konnten, die einen derartigen Fuhrpark unter Vertrag nimmt. "Wir beziehen unsere Autos über onzeauto.nl. Die statten uns nicht nur mit Autos aus, sondern rüsten diese auch direkt fürs Carsharig um." Der Anbieter dafür ist Wego Carsharing, der seit ein paar Jahren auch in Deutschland Fuß gefasst hat und eine Plattform sowie App zur Verfügung stellt, über die das Buchen der Deel-Autos läuft - schlüssellos, versteht sich.
In Zeist ist die Politik an Bord
Wego Carsharing ist auch die Verbindung zum nächsten Carsharingmodell in den Niederlanden, das wir besucht haben. Die Gemeinde Zeist, östlich von Utrecht, nutzt ebenfalls die Wego-Technik, um die 64.000 Einwohner vom Carsharing zu überzeugen. Anders als bei Walter Dresscher geht hier die Privatinitiative von Arnout van Dijk mit der Stadt und Stadtrat Wouter Catsburg Hand in Hand. Community Sharing nennen es die Zeister. Selbstverständlich sind es auch hier E-Autos, die theoretisch an 266 Ladepunkten Ökostrom laden können. Praktischerweise hat aber jedes Carsharing-Fahrzeug seinen eigenen festen Stellplatz mit 11-kW-Ladeanschluss - wie in Den Haag. Und auch in Zeist werden die Fahrzeuge lange gefahren."Wir nutzen die Autos in der Regel fünf bis sechs Jahre", sagt Arnout van Dijk. Aktuell sind 42 Autos für 325 Menschen im Einsatz. Im Programm sind Nissan Leaf, Renault Twingo, Zoe und Megane, Peugeot e-208 und e-2008, BYD Atto3 und BMW i3. Ganz neu dabei ist ein Toyota Proace Electric, falls mal echte Transporte anstehen.
Drei Varianten der Mitgliedschaft gibt es. Basic für alle, die sehr selten ein Auto nutzen (10 Euro Grundbetrag im Monat mit hohen Kilometerkosten), 30 Euro Grundpreis kostet das Medium-Paket und für Heavy User werden 60 Euro fällig, mit günstigeren Kilometerpreisen. Bei allen sind drei Monate Mindestmitgliedschaft obligatorisch. Nach einem Jahr beenden das Abo lediglich fünf Prozent. Die meisten, die aussteigen, steigen ins eigene E-Auto ein - weil sie wegziehen oder Familienzuwachs bekommen. Es scheint also ein Funke Wahrheit dabei zu sein, dass einmal E-Auto immer E-Auto bedeutet. Und Wouter Catsburg ergänzt, dass auch viele der Zeister Carsharing-Nutzer beim eventuellen Kauf des eigenen Autos auf ein reines E-Auto umsteigen.
Ein weiterer Erfolg: Carsharing-Nutzer fahren bis zu 25 Prozent weniger als zuvor. "Das ist auch unser Ansinnen gewesen", sagt Catsburg. Van Dijk ergänzt:"Wir sehen, dass es funktioniert: weniger Autos, weniger Kilometer pro Auto, weniger Verkehr, bessere Luft." Selbstverständlich ist der Strom in Zeist stets grün.
Wenig gewerbliche Nutzung
"Im Moment sind unsere Nutzer vornehmlich privat. Etwa ein Viertel gehört dem Kleingewerbe an. Aktuell sind wir dran, auch größeren Unternehmen eine Lösung anzubieten." Wie in Den Haag, hat auch in Zeist jedes Auto seine fixe 11-kW-Ladestation und damit einen Parkplatz. Grundsätzlich kostet das Abstellen des Privatautos im öffentlichen Bereich Geld."80 bis 250 Euro, für 250 Euro gibt es einen Platz im Parkhaus. Wir wollen es dahingehend ändern, dass Haushalte mit drei Autos nur noch ein Fahrzeug auf der Straße abstellen dürfen, die anderen müssen aufs eigene Grundstück.
Wer für Neubauten Carsharingflächen einplant, erhält mehr Wohn- oder Bürofläche. Wir haben aktuell einen Bau, der drei Carsharingplätze bereitstellen wird und dafür 14 Parkplätze weniger anbieten muss", erklärt Catsburg das Konzept. "2014 sind wir mit dem Motto 'Broad Environmental Vision' in Zeist gestartet. Es wurde die Frage gestellt, wie unsere Umgebung in Zukunft aussehen soll. Dazu haben Interessengruppen und Anwohner sich zusammengetan, um die von der Stadt Zeist bereitgestellten 300.000 Euro Budget für nachhaltige Projekte einzusetzen. Eines der daraus entstandenen Projekte war das Mobilitätssharing. 2018 starteten wir mit elektrischen Cargobikes und danach kam das Carsharing. Das erste Auto war ein e-Golf, der hat aber noch elf Euro pro Stunde gekostet und niemand hat ihn genutzt - kaum verwunderlich. Und dann haben wir uns umgesehen, wie es geht. Im Februar 2019 hatten wir acht Autos und dann kam Corona", erinnert sich Catsburg.