"Nur über meine Leiche." Der einstige Fiat-Boss Sergio Marchionne hatte zu einem SUV bei Ferrari eine ziemlich eindeutige Meinung. Doch Marchionne ist seit fünf Jahren tot und sein Veto mittlerweile ungültig. Denn auch wenn sie sich in Maranello in atemberaubender Wortakrobatik üben, um jene drei Buchstaben zu vermeiden, bringen sie in diesem Sommer tatsächlich ihren ersten aufgebockten Viertürer in dem Handel. Purosangue heißt der fünf Meter lange Koloss von mehr als zwei Tonnen und will trotzdem ein Ferrari reinen Blutes sein – deshalb startet er nicht elektrisch oder wenigstens hybrid, sondern mit einem V12. Er ist wie jeder Ferrari sehr stark (725 PS), extrem schnell (310 km/h) und saumäßig teuer (380.000 Euro, ohne Navi und ohne Leder) – und sehr begehrt. Denn für die nächsten zwei Jahre ist schon jetzt kein Purosangue mehr zu bekommen.
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Damit reitet nun auch Ferrari eine Welle, die Porsche vor ziemlich genau 20 Jahren losgetreten hat. Die Schwaben waren mit dem Cayenne die ersten, die der Sportwagenwelt ein SUV geboten und damit bei aller Kritik der Puristen offenbar einen Nerv getroffen haben. Statt nur Autos für gewisse Stunden zu bauen, gab es damit erstmals einen Wagen für alle Tage – der zudem auch noch für alle Welt taugte: SUV funktionieren in aufstrebenden Massenmärkten wie China oder Indien, aber auch auf dem amerikanischen Land wie dem Highway Number One oder auf deutschen Autobahnen. Kein Wunder also, dass der Cayenne quasi über Nacht den 911 und das Doppel aus Boxster und Cayman überholt hat und - bis zum Debüt des kleinen Bruders Macan – zum meistverkauften Porsche wurde. Und kein Wunder, dass er jede Menge Nachahmer auf den Plan gerufen hat.
Ferrari Purosangue
BildergalerieSUV: Die Rechnung geht auf
Lamborghini Urus und Aston Martin DBX auf der sportlichen Seite, Bentley Bentayga, Maserati Levante, Rolls-Royce Cullinan in der Luxus-Liga – es gibt mittlerweile fast keinen Sport- oder Luxushersteller mehr, der die High Society nicht mit hoher Sitzposition und großem Kofferraum ködert – und die Rechnung geht auf. Wann immer eine Marke ein SUV ins Modellprogramm genommen hat, ist das Dickschiff durchmarschiert an die Spitze der Statistik.
Damit folgt das Jet-Set der breiten Masse – wo das SUV längst die dominierende Fahrzeuggattung ist: "SUV machen mittlerweile mehr als 40 Prozent der Neuwagen aus und in einigen Märkten sind es eher 50 Prozent", sagt PS-Prognostiker Ferdinand Dudenhöffer: "Wer keinen SUV im Modellangebot hat, ist als Autobauer nicht mehr ernst zu nehmen." Und der Trend wird weitergehen, ist Strategieberater Berylls überzeugt: Die Münchner Experten erwarten bis 2030 weltweit noch einmal eine Zunahme um acht bis zehn Millionen SUV pro Jahr und dann einen Weltmarktanteil von rund einem Drittel.
Rolls-Royce Cullinan Black Badge
BildergalerieSUV: Luxus für Boulevard und Buckelpiste
Dass viele die Diskussion ums Klima mit der SUV-Welle in Zusammenhang bringen, hat den Boom der Luxus-Modelle für Boulevard und Buckelpiste nicht gebremst. "Zumal das ohnehin ein rein europäisches Phänomen ist", sagt Berylls-Chef Jan Burgard: "In vielen Diskussionen mit den Superreichen haben wir gelernt, dass sich einige ein bisschen wie Rebellen fühlen. Sie haben zeitlebens hart gearbeitet und wollen sich jetzt nicht alles verbieten lassen. Wenn das zusammenfällt mit einer gewissen Liebe zum Auto, landet man schnell bei einem Luxus- oder Hochleistungs-SUV, das ganz bewusst ein bisschen provozieren darf." Wenn das stimmt, ist damit auch erklärt, warum zum Beispiel die BMW M GmbH als erstes eigenständiges Auto seit dem M1 eben keinen Sportwagen, sondern einen kolossalen Geländewagen mit mehr als 700 PS und ausgesprochen polarisierendem Design auf die Räder stellt. Natürlich sei nicht jeder Reiche ein Rebell, räumt Burgard ein: "Aber ganz sicher setzt jeder Käufer eines solches Autos ein Statement, das konträr ist zur aktuellen Diskussion rund ums Klima und die Größe der Fahrzeuge."
Lamborghini Urus S
BildergalerieDieses Spiel lasse sich aber nicht unbegrenzt treiben, mahnt Automobilwirtschaftler Stefan Bratzel. Ja, bei den Kunden spiele Geld keine Rolle und der Status dagegen eine umso größere. Doch wenn sich solche Fahrzeuge teilweise von der Klima- und Umweltdiskussion entkoppelten, liefen die Hersteller Gefahr, dass ihre Produkte Widerstand in breiten Teilen der Gesellschaft erzeugen und damit sogar einen negativen Statuseffekt auslösen, warnt der Professor an der Hochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach.
Allerdings müsse man die Hersteller verstehen, argumentiert Burgard mit Blick auf die hohen Gewinnspannen für Luxusmarken wie Rolls-Royce, Lamborghini oder Ferrari. "Da ist selbst mit vierstelligen Stückzahlen viel Geld zu verdienen", ist er überzeugt – zumal sich in diesem Rahmen irgendwo auf der Welt immer genügend Kunden für ein neues SUV finden ließen. Einerseits also eine Win-Win-Situation für selbstbewusste Kunden und gewinnorientierte Unternehmen, sei das natürlich andererseits eine Gratwanderung fürs Image der Hersteller und für ihre eigene CO2-Bilanz. "Aber es ist auch klar, dass irgendwoher das Geld kommen muss, damit insbesondere kleine Hersteller die Transformation in Richtung Elektro bestehen und gleichzeitig Geld verdienen können."
Bentley Bentayga Extended Wheelbase (2022)
BildergalerieSUV: Schönheitsideale im Wandel
Dass es trotzdem nicht ohne Kritik geht, muss jetzt gerade Ferrari erfahren. So urteilt zum Beispiel der leidenschaftliche Italiener und PS-Philosoph Paolo Tumminelli aus Köln über den Purosangue: "20 Jahre nach dem Porsche Cayenne fällt jetzt auch Ferrari der SUV-Pandemie zu Opfer", sagt der Designprofessor und klagt: "Vollgasidole wie Steve McQueen, Ayrton Senna, Ferry Porsche und eben Enzo Ferrari sind tot. Und der Sportwagen ist auch längst tot und lebt nur noch im Mythos weiter." Nur könne man mit einem Mythos eben keine Kinder zur Schule bringen oder durch verkehrsberuhigte Vorstädte fahren.
Aber die Schönheitsideale befänden sich im Wandel. "Über den Laufsteg flanieren Plus-Size Models, zuhause gibt es Box-Spring-Betten, auf der Straße den SUV. So gesehen, ist der Purosangue ein gelungenes Design", billigt Tumminelli den Italienern zu, ohne sich wirklich für das Konzept zu erwärmen: "Ob Dacia oder Ferrari, das SUV ist jetzt endgültig das Auto schlechthin: übergewichtig, überflüssig und multioptional wie die Gesellschaft, die ihn erfunden hat." Einen Vorwurf macht Tumminelli Ferrari aber nicht. Wie hätte Maranello auch weiter Widerstand leisten können, wenn jeder zweite Lamborghini längst ein Urus ist und in den USA 80 Prozent der Neuwagen als SUV verkauft werden, fragt der Experte.
BMW XM (2022)
BildergalerieDer nächste Sündenfall
Ferdinand Dudenhöffer ist da nicht so gnädig und vermisst vor allem einen zukunftsträchtigen Antrieb: Je mehr SUV es gebe, desto lauter stelle sich die Frage nach deren Umweltverträglichkeit: Und darauf können die stolzen Ferraris nur eine dürre Antwort geben, so der Experte. "Jam 724 PS, und ja 3,3 Sekunden von Null auf Hundert… aber eben bald Dinosaurier. Der Tesla Model S Plaid braucht für Null auf 100 dünne zwei Sekunden. Und er fährt CO2-frei, sobald die Batterien mit grünem Strom produziert werden und grüner Strom den Tesla antreibt", argumentiert Dudenhöffer. "Der SUV ist in Maranello angekommen, die neue Welt aber leider noch nicht."
Aber andernorts sieht die Sache offenbar ganz anders aus. Denn nachdem Ferrari eingeknickt, steht der nächste Sündenfall bereits bevor. Auch Lotus, einst erfolgreicher Rennstall und dann englischer Dauerpatient, der seine Daseinsberechtigung, wenn überhaupt, dem Prinzip Leichtbau verdankt, baut jetzt ebenfalls ein SUV. Nur sind die Briten wenigstens so konsequent, dass daraus auch gleich ihr erstes Elektroauto wird und sie mit 600 PS in diesem Eletre in die Spitze des Segmentes vorstoßen.
Lotus Eletre (2022)
BildergalerieBleibt also aktuell nur noch McLaren bei der reinen Lehre. Denn der GT sei das alltagstauglichste, was man bei den Briten erwarten könne, hat der frühere Firmenchef Mike Flewitt gebetsmühlenartig wiederholt. Doch Flewitt ist mittlerweile außer Dienst, und sein Nachfolger Michael Leiters hat zuletzt bei als Technik-Vorstand bei Ferrari gearbeitet und dort gelernt, wie lange solche Tabus tatsächlich halten.