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Boris Palmer im Interview: E-Chauffiert Euch selbst!

06.04.2022 15:00 Uhr | Lesezeit: 6 min
Boris Palmer im Interview: E-Chauffiert Euch selbst!
Das S-Pedelec ist für Boris Palmer ein Freiheitsgefühl und außerhalb der Stadt präferiertes Fortbewegungsmittel.
© Foto: Paul-Janosch Ersing/Autoflotte

Eine schwarze Limousine gehört für viele Oberbürgermeister noch immer zur Grundausstattung des städtischen Fuhrparks. In der Universitätsstadt Tübingen mit ihrem grünen OB ist das ein wenig anders.

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Vor den Toren Stuttgarts hat Boris Palmer bereits vor 15 Jahren den Dienstwagen samt Chauffeur eingespart und durch andere Mobilitätskonzepte ersetzt - erst durch einen Toyota Prius, dann durch einen Smart und schließlich durch ein S-Pedelec und eine Bahncard 100. Wir haben uns mit dem streitbaren Stadtoberhaupt zu einer kleinen Radtour durch die Stadt getroffen und über seine Vorreiterrolle in Sachen Dienstfahrzeug und multimodalen Mobilitätslösungen unterhalten.

Herr Palmer, wie sind Sie heute zur Arbeit gekommen - zu Fuß, mit dem Fahrrad, Auto, Bus, Bahn oder Flugzeug?

Boris Palmer: Von meiner Haustür bis zum Rathaus sind es 700 Meter. Da muss ich jeden Morgen neu entscheiden, ob ich zu Fuß gehe oder mein Fahrrad nehme. Aufgrund der Fußgängerzone in der Tübinger Altstadt bringt das Rad - inklusive aus dem Keller holen und Helm aufsetzen - kaum zeitlichen Vorteil. Es hängt also immer davon ab, was auf meinem Tagesplan steht. Für kurzfristige Fälle parkt in der Rathaus-Tiefgarage noch mein Dienstrad: ein S-Pedelec. Das nutze ich aber nur bei akutem Zeitdruck, größerer Entfernung oder einer ernstzunehmenden Höhendifferenz.

Der Raum Stuttgart ist ja so etwas wie die Wiege des Automobilbaus. Welchen Stellenwert hat das Auto 2022 noch?

B. Palmer: Das ist eine Generationenfrage, da muss man unterscheiden: Bei vielen Älteren ist das Auto nach wie vor ein Wohlstands- und Statussymbol, bei den Jüngeren wird eher nach einem Nutzenkalkül entschieden: Wenn das Auto geschickt ist, wird es genommen - wenn ein anderes Verkehrsmittel geschickter ist, dann nicht.

Als Sie 2007 das Amt des Oberbürgermeisters von Tübingen antraten, stand noch ein Dienstwagen der Vorgängerin bereit: eine Mercedes E-Klasse samt Fahrer. Weshalb haben Sie sich für eine Alternative entschieden?

B. Palmer: Ich habe den damaligen Fahrer gefragt, was die E-Klasse so verbraucht. Er antwortete: Oh, der ist sehr sparsam - nur elf Liter. Das erschien mir entschieden zu viel, denn das entsprach einem CO2-Ausstoß von mehr als 250 Gramm pro Kilometer. Ich habe mir dann Neuwagenangebote durchgeschaut und festgestellt, dass bei Mercedes kein Auto unter 160 Gramm CO2 zu haben war. Toyota war mit dem Prius bei einem Wert von 104 Gramm - also habe ich mich für diesen entschieden. Da meine Jahreskilometerleistung nicht wie bei meiner Vorgängerin bei 15.000 Kilometern, sondern nur noch bei 1.500 Kilometern lag, habe ich von Anfang an auf den Fahrer verzichtet und wurde mein eigener Chauffeur.

Einige Zeit später wurde aus dem Toyota Prius ein Smart mit sparsamem Dieselmotor. Wie kam es zum Downsizing?

B. Palmer: Es lag nicht am Prius, denn der Verbrauch lag tatsächlich bei den versprochenen 4,3 Litern. Der damalige VDA-Chef Matthias Wissmann kam mit dem Versprechen auf mich zu, ein deutsches Produkt zu finden, das den Prius in Sachen CO2 unterbietet. Und tatsächlich hatte der Smart Fortwo ein Gramm weniger, nämlich 103 Gramm pro Kilometer. Ich habe dann auf die Hälfte der Sitze verzichtet, um den CO2-Ausstoß nach unten zu bringen.

So richtig überzeugt hat Sie der kleine Diesel aber doch nicht, oder?

B. Palmer: Leider war der Realverbrauch beim Smart deutlich höher als der Wert auf dem Papier, das waren eher fünf bis sechs Liter. Deswegen bin ich nach einem weiteren Jahr zu der Überzeugung gekommen, ganz auf einen Dienstwagen zu verzichten.

Anstelle eines E-Autos wurde dann ein S-Pedelec zum Dienstfahrzeug. Seither sind Sie im Stadtgebiet mit Muskelkraft und E-Unterstützung unterwegs. Erinnern Sie sich noch an die Anfangsphase?

B. Palmer: Das war schon ein großes Freiheitsgefühl. Der ungeheure Schub, den ein starker E-Motor gibt, sobald man in die Pedale tritt, war faszinierend. Heute haben das die meisten schon mal selbst erlebt, ich war damals einer der ersten S-Pedelec-Fahrer. Aber im Stadtgebiet hat sich durch den Verzicht auf das Dienstauto eigentlich nichts geändert. Denn ich bin hier immer schon mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Lediglich für die weiter entfernten Termine in der Region brauche ich seither eben ein Taxi oder ein Carsharing-Auto.

Tübingen liegt am Neckar und breitet sich auf mehrere umliegende Hügel aus. Erreichen Sie alle Teilorte mit dem S-Pedelec oder fahren Sie sogar in weiter entfernte Nachbargemeinden?

B. Palmer: Im Stadtgebiet nehme ich fast immer das normale Fahrrad. In den am weitesten entfernten Teilort sind es höchstens 25 Minuten. Mit dem S-Pedelec erreiche ich den gesamten Landkreis, und manchmal lasse ich im Sommer auch längere Strecken in den Kalender eintragen - zum Beispiel zwei Stunden zu einem Amtskollegen auf der Schwäbischen Alb. Wir haben hier ja glücklicherweise viele landschaftlich reizvolle Strecken.

Sie sind Mathematiker und ein Freund von Fakten. Ich gehe davon aus, dass Sie ausgerechnet haben, wie viel CO2 durch den Umstieg vom Auto aufs Elektro-Rad jedes Jahr eingespart wurde?

B. Palmer: Die Einsparung ist relativ gering, aber aus einem ganz bestimmten Grund: Ich bin ja schon im ersten Jahr als OB sehr wenig Auto gefahren. Und die jährlich rund 1.500 Kilometer fahre ist heute meistens mit dem Taxi, beispielsweise zum Stuttgarter Flughafen. Der Vergleich mit mir selbst bringt also wenig. Daher zählt eher meine grundlegende Entscheidung, fast alle Wege mit dem Fahrrad zurückzulegen, auf mein CO2-Konto ein.

Sie stromern mit gutem Beispiel voran. Hat sich das auf den Fuhrpark der Stadtverwaltung ausgewirkt? Gibt es weitere (S-)Pedelecs oder Lastenräder, die als Diensträder genutzt werden?

B. Palmer: Ich würde schon sagen, dass es auf den Fuhrpark abstrahlt. Wir haben Schritt für Schritt Pedelecs und Lastenräder eingeführt und achten bei der Beschaffung strickt auf den CO2-Ausstoß. Das Poolfahrzeug für Bürgermeister und Fachbereichsleiter ist beispielsweise ein Audi A3 mit rund 110 Gramm CO2. Da, wo es geht, setzen wir bei Kommunalfahrzeugen auf Elektroantriebe, und auch bei der Stadtbusflotte gibt es Fortschritte. Für unsere 1.500 städtischen Beschäftigten ist es darüber hinaus problemlos möglich, ein Carsharing-Auto zu nutzen. Bei den Jobrad-Nutzerzahlen erleben wir in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg.

Lassen Sie uns noch kurz beim Thema S-Pedelec bleiben. Diese hochmotorisierten und bis zu Tempo 45 schnellen Fahrräder unterscheiden sich ja rechtlich sehr von den landläufigen Pedelecs, deren E-Motoren bei 25 km/h abregeln. Wie erleben Sie es, dass sie weder auf Straßen noch auf Radwegen gern gesehen sind? Braucht es neue Regelungen?

B. Palmer: Der Blick auf die Verkaufszahlen in der Schweiz hat mir gezeigt, dass es einen riesigen Unterschied macht, ob S-Pedelecs auf Radwegen fahren dürfen oder nicht. Während ihr Anteil an den Fahrradverkäufen in der Schweiz bei 20 Prozent liegt, sind es in Deutschland gerade Mal zwei Prozent. Ich habe aber tatsächlich erst als Nutzer gemerkt, wie schlecht S-Pedelec-Fahren geregelt ist. Ich hatte in einem konkreten Fall die Wahl, auf einer vierspurigen Bundesstraße durch den Schlossbergtunnel zu fahren oder durch den Fahrrad- und Fußgängertunnel zu schieben. Bei Ersterem musste ich Angst um mein Leben haben. Letzteres wäre absurd gewesen und hat mich dazu gebracht, unerlaubter Weise zu fahren. Deshalb habe ich mehrfach Briefe an Bundesminister geschrieben, dass ich der Meinung bin, dass auch S-Pedelecs auf Fahrradwegen fahren dürfen sollten - wenn sie sich an die entsprechende Geschwindigkeit halten. Denn auch mit einem Porsche darf man ja durch eine verkehrsberuhigte Zone rollen. Nach vielen Jahren konnten wir am Radweg das Zusatzschild "S-Pedelec frei" aufhängen, so dass es jetzt einen legalen Weg durch den Schlossberg gibt.

Es gibt im Leben eines Oberbürgermeisters Augenblicke, in denen er auf eine Autofahrt nicht verzichten kann. Was tun Sie in solchen Fällen?

B. Palmer: Das Mittel der Wahl ist hier ganz klar das Taxi. Auf der häufigsten Strecke, die zum Flughafen, gibt es aktuell leider keine wirkliche Alternative zum Auto. Wenn der Flughafen-Bahnhof in fünf Jahren fertig sein sollte, fährt alle halbe Stunde ein Zug von Tübingen dorthin. Mit einer Fahrtzeit von 30 Minuten ist das dann konkurrenzfähig. Wenn ich dann noch Oberbürgermeister bin, fallen diese Taxifahrten also auch noch weg.

Und in welchen Fällen steigen Sie doch ins Flugzeug?

B. Palmer: Ich fahre gerne und viel mit der Bahn. Aber wenn es mal nach Berlin oder Hamburg geht, steige ich aus Zeitgründen regelmäßig in den Flieger. Bei Dienstreisen in unsere Partnerstädte Petrosawodsk (Russland) oder Moshi (Tansania) fällt das Fahrrad leider als Transportmittel aus. Nach Perugia (Italien) und Aix-en-Provence (Frankreich) bin ich in meiner Freizeit allerdings schon geradelt.

Während viele Ihrer Amtskollegen in den vorm Rathaus wartenden Dienstwagen steigen, wägen Sie seit 15 Jahren ab, welches Verkehrsmittel das passendste ist. Organisieren Sie das selbst?

B. Palmer: Ich bin als multimodaler Nutzer schon sehr gut ausgestattet: Mit einer Bahncard 100, einem Dienst-S-Pedelec, meinem Fahrrad, städtischen Poolfahrzeugen und einem Büro, das mir bei Bedarf ein Taxi ruft oder einen Flug bucht. Diese volle Flexibilität ist natürlich ein absoluter Luxus. Aber die Entscheidung, wann ich welches Verkehrsmittel nutze, treffe ich noch immer selbst.

Warum würden Sie diese multimodale Herangehensweise jedem Stadtoberhaupt empfehlen?

B. Palmer: Der ökologische Gewinn, wenn der OB keinen Dienstwagen mehr nutzt, liegt auf der Hand. Aber der Kostenvorteil ist hier noch viel größer: Tatsächlich ist die Summe aus eingesparter Stelle und eingespartem Fahrzeug so im Bereich 60.000 - 70.000 Euro anzusiedeln. Das entspricht einem halben OB-Gehalt, oder zugespitzt: Ich bringe hier die gleiche OB-Leistung mit einem Drittel geringeren Kosten. Es scheint aber tatsächlich so, als sei ich nach wie vor eine Rarität: Zumindest sehe ich beim Städtetag immer noch ziemlich viele schwarze Limousinen.

Herr Palmer, herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch.

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KOMMENTARE


mein name

07.04.2022 - 08:05 Uhr

Wenn dieser Mensch wirklich ökologisch denken und konsequent handeln würde, würde er um Feinstaub zu vermeiden Barfuß laufen und nur Kleidung aus 100% Naturfasern tragen, die ökologisch entsprechend in Handarbeit gefertigt wäre. Das Fahren eines Pedelec ist meines Erachtens die größte Umweltsünde, denn warum muss ein gesunder Mensch sich der elektrischen Hilfe bei der Fortbewegung bedienen, zudem der Akku in der Produktion (CO2-Entstehung sowie von den Inhaltsstoffen) extrem hoch belastet ist. Aber das nur am Rande der Grünen-Scheinideologie.


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