Von Benjamin Bessinger
Er ist mit Abstand das wichtigste Auto des Jahres – und zwar nicht nur für VW, sondern vielleicht für die ganze Branche. Denn wenn die Niedersachsen jetzt endlich mit dem Verkauf des ID.3 beginnen, treten sie die nächste große Welle der elektrischen Neuheiten los. Und es spricht vieles dafür, dass der erste Großserien-Stromer aus Wolfsburg mindestens so bedeutsam wird wie der Golf.
Erstens, weil er mit kompaktem Format, konventionellem Fahrgefühl und einem Startpreis von zunächst 33.609 Euro netto und später sogar rund 25.000 Euro netto das Zeug zum Bestseller hat. Erst recht, wenn man auch noch die 9.000 Euro Förderung und den kostenlosen Strom fürs erste Jahr abzieht. Und zweitens, weil er genau wie sein konventioneller Cousin zum Oberhaupt einer großen Familie wird: Als erstes Auto aus dem sogenannten Modularen Elektrifizierungsbaukasten MEB steht er an der Spitze von über 30 Modellen bei VW, Audi, Seat und Skoda, von denen der Konzern bis zum Ende der Dekade mehr als 20 Millionen Exemplare verkauft will. Wenn das klappt, wirkt Elektromobilität gar vollends zur Massenbewegung.
Los geht es mit einer "First Edition", die ab sofort von den 37.000 registrierten Interessenten und in vier Wochen dann von jedermann bestellt werden kann und ab September mit der gleichen Staffelung ausgeliefert werden soll. Ihr Motor – erstmals seit dem Käfer wieder im Heck montiert– leistet 150 kW / 204 PS und der Akku der ersten Serie lädt 58 kWh, die für 420 Kilometer reichen sollen. Später folgen eine Version mit 77 kWh für bis zu 550 Norm-Kilometer und ein auf 330 Kilometer ausgelegtes 45 KWh-Modell. Abzüglich der Förderung landet der ID.3 damit ziemlich genau beim aktuellen Basis-Preis des Golf.
Damit der ID.3 zum Golf einer neuen Zeit wird, macht VW es Umsteigern ausgesprochen leicht. Zwar unterscheidet sich der ID.3 deutlich vom Golf und sieht irgendwie nach Zukunft aus, ohne die eher konservative Kundschaft so zu verschrecken, wie es etwa der BMW i3 getan hat. Doch nicht nur der Preis ist nach Abzug der Förderung vergleichbar, sondern auch das Fahrgefühl kommt einem sehr vertraut vor.
Kein One-Pedal-Gefühl
Auf der einen Seite ist das gut, weil man weder was von der höheren Sitzposition fühlt noch von den geschätzten zehn Zentnern für die Batterie, die im Wagenboden verstaut ist. Und wo andere Stromer einen ziemlich synthetischen Eindruck machen, knüpft auch der ID.3 ein enges Band zwischen Fahrer und Fahrbahn. Doch auf der anderen Seite ist das ein Mangel. Denn das bei vielen E-Fahrern so beliebte One-Pedal-Gefühl kann der VW kaum bieten. Im Standard-Programm rollt er schier endlos aus, wenn man den Fuß vom Fahrpedal nimmt. Und selbst wenn man auf "B" wie Brake stellt und so die Rekuperation erhöht, spürt man kaum etwas von der Verzögerung. Wer auf absehbare Distanz stehen bleiben will, der muss schon die Bremse treten – selbst wenn die natürlich auch erst einmal den E-Motor zur Energierückgewinnung nutzt, bevor mechanisch verzögert wird.
VW ID.3
BildergalerieVon der gespenstischen Stille einmal abgesehen und natürlich vom Antritt, der bei einem Sprint von 3,4 Sekunden von Null auf 60 Sachen jeden GTI von Neid erblassen lässt, merkt man den größten Unterschied deshalb beim Rasen und beim Rangieren: Bei ersterem, weil die Elektronik bei exakt 160 km/h mit Rücksicht auf die Reichweite den Stecker zieht. Und bei letzterem, weil sich die Räder ohne störenden Motor im Bug weiter einschlagen lassen, der ID.3 so einen spürbar kleineren Wendekreis hat und deutlich besser ums Eck kommt.
Während sich der Fahrer dabei eher an den Polo erinnert fühlt als an den Golf, denken die Hinterbänkler bei der ersten Tour in die Zukunft an den Passat. Denn obwohl der ID.3 mit seinen 4,26 Metern sogar etwas kürzer ist als der Golf, hat er 13 Zentimeter mehr Radstand und bietet deshalb hinten viel mehr Kniefreiheit. Und selbst der Kofferraum ist mit 385 Litern einen Hauch größer als beim alten König der Kompaktklasse; den vor allem von Tesla bekannten "Frunk" im Bug haben sich die Niedersachsen deshalb kurzerhand gespart.
Keinen Vergleich gibt es für das neue Bediensystem, das den vielfach als zu progressiv gescholtenen Golf 8 mit seinen vielen Sensorflächen, Slidern und Touchbars schon wieder alt aussehen lässt. Zumindest in den eigenen Reihen. Wer den Blick allerdings etwas schweifen lässt, der fühlt sich von dem radikal reduzierten Cockpit mit dem großen Touchscreen in der Mitte und dem kleinen Display hinter dem Lenkrad verdächtig an den BMW i3 erinnert – erst recht, wenn er irgendwann hinter dem Volant doch noch den Wählhebel für die Eingang-Automatik entdeckt, der wie ein Pilz aus dem Bildschirmrahmen wächst. So richtig neu ist deshalb nur die große Lichtleiste unter der Frontscheibe, über die der ID.3 mit den Insassen durch Farbimpulse kommuniziert: Blau für Navigationshinweise, rot für Warnungen, grün für eingehende Anrufe und weiß, wenn die Sprachsteuerung ganz Ohr ist.
Schwächen bei der Materialanmutung
Aber der ID.3 hält für VW-Kunden noch zwei neue Erfahrungen bereit – und das sind nicht die besten. So erschreckt der offenbar unter einem gewaltigen Kostendruck entwickelte Stromer mit einer Materialanmutung vor allem im unteren Bereich des Armaturenbretts und im Fond, für die Entwickler und Projektleiter noch vor drei, vier Jahren wütend aus Wolfsburg verjagt worden wären.
Und nachdem die Ingenieure alle elektronischen Funktionen in nur noch zwei statt vielen Dutzend Steuergeräten bündeln, hakt es bislang noch bei der Software und die ersten Exemplare des ID.3 werden nicht den vollen Funktionsumfang bieten. Auf Teile des Head-Up-Displays, auf die Smartphone-Integration und auf den Einpark-Roboter müssen die "First Mover", wie VW die Kundschaft im Deutsch der neuen Zeit nennt, erst einmal verzichten. Aber anders als gegen das viele Hartplastik hilft dagegen ein kostenloses Update, das VW noch im Laufe des Jahres verspricht – und im Gegenzug die ersten drei Leasingraten streicht.