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Bentley Mulsanne: Farewell, Ihre Majestät

27.11.2020 05:00 Uhr
Die Produktion der 2009 gestarteten Baureihe Mulsanne hat Bentley in diesem Jahr auslaufen lassen
© Foto: Bentley

Ihre Majestät treten ab. Nein, nicht Queen Elizabeth II., sondern der Bentley Mulsanne. Doch mit dem Flaggschiff der britischen VW-Tochter verschwindet eine ähnlich feste Größe im Auto-Adel. Und so wie es wohl in Windsor passieren würde, droht nun auch in Crewe eine Palast-Revolution.

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Von Benjamin Bessinger

Die Monarchie ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Schon gar nicht in England. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass sich die Queen und Prince Philip aus Furcht vor der Pandemie auf Windsor Castle einigeln und sich Harry und Meghan aus der Adelswelt verabschieden. Nein, jetzt geht es auch noch dem automobilen Adel an den Kragen. Denn in diesem Jahr hat Bentley den Mulsanne eingestellt und damit ein Auto vom Markt genommen, das viel gemein hatte mit der Monarchie im Allgemeinen und den Windsors im Besonderen. Schließlich war das frühere Flaggschiff der Briten ebenso exklusiv wie exzentrisch, es war hoffnungslos überflüssig und genau deshalb liebenswert, prunkvoll und protzig und trotzdem irgendwie kleinkariert, und obwohl Konzernmutter VW ihn immer brav modernisiert hat, wirkte der Wagen immer ein wenig aus der Zeit gefallen.

Dass die Wurzeln des Wagens ins Jahr 2005 zurückreichen, als die Entwicklung für den Nachfolger des noch mit dem Rolls-Royce Silver Seraph blutsverwandten Arnage begonnen hat, und dass der Mulsanne bereits seit 2009 auf dem Markt ist, sieht man dem royalen Riesen zumindest von außen nicht an. Denn nach wie vor oder vielleicht sogar mehr denn je imponiert der Mulsanne bei der Ausfahrt zum Abschied mit einer Präsenz und einem Prunk, der dem des Buckingham Pallace in nichts nachsteht. Der Kühlergrill ist imposant wie die Fassade des Stadtschlosses und die LED-Scheinwerfer sind groß wie Pfannkuchen und stellen alle noch so modernen Laser- oder Matrix-Leuchten allein wegen ihres Formates in den Schatten.

Und dann erst das Profil: Auf 5,83 Meter streckt sich der Mulsanne, wenn man zu den knapp 300.000 Euro Grundpreis noch einmal etwa 50.000 Euro überwiesen und sich für den Mulsanne EWB mit Extended Wheelbase entschieden hat: 50.000 Euro für 25 Zentimeter mehr Radstand und mehr Raum, die gut angelegt sind. Denn die Briten haben den Fond zu einer exklusiven Reiselounge aufgewertet, die es mit jedem Privatflieger aufnehmen kann. Auf Knopfdruck surrt deshalb der Beifahrersitz nach vorne und wie sonst nur im Maybach wird der Thronsessel in der zweiten Reihe zu einer Liege, die einem sanft den Rücken krault und die Kehrseite wärmt. Wer sich den Müßiggang in den wunderbar weichen Kissen allein nicht leisten will, der checkt auf den elektrisch ausfahrbaren Bildschirmen schnell noch die Aktienkurse oder klappt aus dem Mitteltunnel zum Arbeiten einen der zwei Tische heraus, die mit ihrem Ballett aus fast 800 Einzelteilen schon allein eine Schau sind.

Zwar ist der Mulsanne nicht ganz so schnell wie ein Privatjet und auch mit der neuen Online-Navigation ist man auf Straßen angewiesen und deshalb bisweilen vom Stau bedroht. Doch es gibt ein paar gute Gründe, die trotzdem für die Flughöhe Null sprechen – das noch einmal softere Fahrwerk, das einen wie auf Wolken bettet aber anders als der Flieger keine Turbulenzen kennt. Und die himmlische Ruhe an Bord, die Bentley mit noch mehr Isolierung und aktiven Motorlagern bei der letzten Modellpflege im Jahr 2016 sogar noch einmal gesteigert hat. Hätte das Auto noch eine echte, mechanische Uhr – ihr Ticken wäre wahrscheinlich das einzige, was man im Fond noch hören würde.


Bentley Mulsanne 6.75 Edition

Bentley Mulsanne 6.75 Edition Bildergalerie

Seit 2009 wurden mehr als 7.000 Exemplare des Mulsanne gefertigt. Über 400 Stunden dauert die Montage eines Fahrzeugs.
© Foto: Bentley

So kuschelig und gemütlich es auf den Liegesesseln auch sein mag, so gerne man sich den gekühlten Champagner in die maßgefertigten Kelche füllt, so dringend die Akten auf dem noblen Klapptischchen auch sein mögen und so neugierig man mit dem Tablet-Computer spielt, der auf Knopfdruck aus der Rückenlehne des Vordersitzes surrt und mit einem Griff demontiert werden kann – es gibt selbst in diesem Auto ein Argument, das den Besitzer aus seiner Luxuslounge treibt und hinters Lenkrad lockt: Der 6,75 Liter große V8-Liter-Motor unter der mächtigen Haube, der als traditionellster Achtzylinder der Welt gilt. Schließlich wird er bereits seit 1959 produziert und seitdem zwar kontinuierlich weiterentwickelt, aber nie komplett ausgetauscht.

Beschleunigung wird zum echten Spektakel

Zwar bleiben 2,7 Tonnen bleiben 2,7 Tonnen, selbst wenn sich 512 PS tapfer dagegenstemmen. Doch wenn kurz jenseits der Leerlaufdrehzahl 1.020 Nm zupacken, dann fühlt sich selbst so eine riesige Limousine plötzlich federleicht an. Während der Achtzylinder tatsächlich ein wenig die Stimme anhebt und sich die Achtgang-Automatik zumindest in dem bei diesem Auto eher überflüssigen Sport-Modus ein paar spürbare Schaltpunkte erlaubt, nimmt der Mulsanne so unmerklich Fahrt auf, als würde er von einem Magneten gezogen und nicht von einem Motor getrieben. Von Null auf 100 in 5,5 Sekunden und Spitze immerhin 296 km/h – was schon in einer normalen Luxuslimousine ziemlich eindrucksvoll wirkt, wird in diesem Luxusauto zu einem echten Spektakel. Allerdings braucht es den Weitblick eines Kreuzfahrt-Kapitäns und das Augenmaß eines Sportschützen, um das Dickschiff tatsächlich derart dynamisch zu bewegen. Denn wo der Mulsanne nicht nur länger, sondern mit der Modellpflege auch breiter geworden ist, werden selbst weite Straßen plötzlich ganz schön eng. Von den verwinkelten Hotelzufahrten in der Welt der Reichen und Schönen ganz zu schweigen.

Auf nennenswerte Hilfe der Elektronik darf der Fahrer dabei nicht bauen. Zwar hat Bentley über die Jahre wenigstens einen Totwinkel-Assistenten, adaptive Scheinwerfer und einen Abstandstempomaten eingebaut. Doch den bei der bürgerlichen Konkurrenz bis in die Niederungen verbreitete Lenkeingriff für die Spurführung zum Beispiel kann der Bentley genauso wenig bieten wie eine Verkehrszeichenerkennung oder eine Einparkhilfe. Aber so ist das eben mit dem Adel – egal ob im Schloss oder auf der Straße: So richtig aufgeschlossen für Neuerungen ist der selten.

Und genau wie der Betrieb des Königshauses ist auch der Bau des Mulsanne eine aufwändige Angelegenheit – selbst wenn zuletzt ein Touchscreen zumindest ein paar der fein ziselierten Knöpfe und Taster überflüssig gemacht hat, die eher vom Juwelier kamen als vom Automobilzulieferer. Über 400 Stunden dauert es, bis von Hand bald 6.000 Schweißpunkte gesetzt sind und bis die Lackierer ein knappes Dutzend Schichten der über 100 Lackfarben aufgetragen und sie zuletzt zwölf Stunden mit Schafswolltüchern poliert haben. Allein die Lederausstattung kostet 150 Stunden, von denen wiederum 37 nur auf die Kontrastnähte entfallen. Unter dem Strich haben die 700 Mulsanne-Monteure über die Laufzeit des Luxusliners fast drei Millionen Stunden Handarbeit in das Flaggschiff gesteckt – davon allein 900.000 ins Polieren und eine Million ins Vernähen des Leders. Moderne Automobilproduktion geht anders. Denn in der Zeit, in der Bentley einen Mulsanne gebaut hat, sind in Wolfsburg bestimmt 40 Golfe vom Band gelaufen, und man kann dem Konzern kaum böse sein, dass er die Reißleine gezogen hat.

Rolls-Royce Phantom verliert einzigen Rivalen

Mit dem Mulsanne verabschiedet sich nicht nur ein wahrhaft majestätisches Auto und der einzige auch nur halbwegs ernst zu nehmende Konkurrent des Rolls-Royce Phantom. Sondern damit bleibt auch ein weiteres Stück Eigenständigkeit auf der Strecke. Denn während der Mulsanne außer ein paar Komponenten aus dem Konzernbaukasten ein solitäres Auto war, ist der zum Nachfolger geadelte Continental Flying Spur kaum mehr als ein Audi A8 oder ein Porsche Panamera im feinen Zwirn.

Und es kommt wohl noch schlimmer für die Briten. Denn wenn stimmt, was sie in Wolfsburg von den Dächern pfeifen, dann wird Bentley bald unter Audi-Ägide geführt und die Entscheidungen in Crewe haben für den Lauf der Dinge noch weniger Einfluss als die Wünsche und Weisungen aus dem Hause Windsor. Schwer vorzustellen, dass es je wieder ein derart stolzes und skurriles Modell wie den Mulsanne geben wird.

Das ist schade, aber nicht schlimm. Immerhin sind seit 2009 über 7.000 Exemplare gebaut worden. Das sind zwar kaum mehr als 500 im Jahr. Doch weil Luxuslimousinen im Allgemeinen ausgesprochen langlebig sind und Autos wie der Mulsanne im Besonderen zumeist von vielen dienstbaren Geistern umsorgt werden, sollte ihre Majestät zumindest auf dem Gebrauchtwagen-Markt noch eine Zeitlang das Zepter schwingen. Statt Farewell heißt es dann fahre wohl.

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