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Der schmale Grat

01.03.2017 06:00 Uhr
Der schmale Grat

Was zählt bei Überschreitung des Tempolimits noch als fahrlässig begangene Ordnungswidrigkeit und was stellt eine Vorsatztat dar, die eine härtere Strafe bedeutet?

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_ Jeder Autofahrer kennt die Situation: Ein Augenblick der Unachtsamkeit und schon "blitzt" es, wenn man zur falschen Zeit an der falschen Stelle unterwegs ist - dem Ort der aktuellen Verkehrsüberwachung. Kaum ein Autofahrer vermag sich dann an die in dieser Situation genau gefahrene Geschwindigkeit zu erinnern. Dass nahezu alle behaupten, sie seien jedenfalls nicht zu schnell gefahren, liegt wohl in der Natur der Sache. Aber viel interessanter ist die Frage: Was zählt (noch) als fahrlässig begangene Verkehrsordnungswidrigkeit und was stellt (schon) eine Vorsatztat dar?

Dieser Unterschied wirft nicht nur die Frage nach der Höhe des zu verhängenden Bußgeldes auf, sondern mitunter auch die (verwaltungsrechtliche) Frage der Fahreignung. Schlimmstenfalls kann an der Einstufung als "Vorsatztat" auch der Erhalt der Fahrerlaubnis hängen.

Verdoppelung bei Vorsatz

§ 3 Abs. 4 a der Bußgeldkatalog-Verordnung lautet: "Wird ein Tatbestand des Abschnitts I des Bußgeldkatalogs vorsätzlich verursacht, für den ein Regelsatz von mehr als 35 Euro vorgesehen ist, so ist der dort genannte Regelsatz zu verdoppeln." Der Bundesrat begründet diese Regelungen mit der Erhöhung der Verkehrssicherheit durch verbesserte Allgemein- und Spezialprävention sowie stärkerer Differenzierung bei der Ahndung der Verkehrsverstöße in Abhängigkeit von deren Vorwerfbarkeit.

So verwundert es nicht, dass in Bußgeldverfahren wegen erheblicher Geschwindigkeitsüberschreitungen immer wieder die Frage gestellt wird, ob der Verstoß noch fahrlässig begangen wurde oder Vorsatz unterstellt werden kann.

Doch was ist unter "Vorsatz" zu verstehen? Der Jurist versteht darunter das Wissen (intellektuelles Element) und Wollen (voluntatives Element) bei der Verwirklichung eines Tatbestandes. Eine Geschwindigkeitsüberschreitung als ein solcher Tatbestand wird dann mehr oder weniger wissentlich mit rechtswidrigem Erfolg begangen.

Mehrere Stufen Es gibt drei Stufen des Vorsatzes:

- Der vom Täter mit Absicht bezweckte Erfolg der Handlung

- Der mit Sicherheit eintretende vorhergesehene Erfolg der Handlung (direkter Vorsatz)

- Und der nicht angestrebte schädliche Erfolg der Handlung, der billigend in Kauf genommen wurde (bedingter Vorsatz)

An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass zwischen "direktem Vorsatz" und lediglich "bedingtem Vorsatz" zu unterscheiden ist: Beim Ersteren hält der Täter den Eintritt des Erfolgs für sicher (Wissen), beim bedingten Vorsatz hält er ihn dagegen bloß für möglich (Wissen), handelt aber trotzdem und nimmt den Erfolg damit billigend in Kauf (Wollen).

Allerdings ist der von der Polizei behauptete Vorsatz im Ermittlungsverfahren zu beweisen. Vorsatz ist nach der Rechtsprechung allein durch die Angabe der prozentualen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht zu begründen. Das Ausmaß der Überschreitung ist vielmehr lediglich ein Indiz für den Vorsatz.

Die Frage, ob eine Geschwindigkeitsüberschreitung vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde, kann unter anderem für die Anordnung eines Fahrverbots von entscheidender Bedeutung sein. Der Bußgeldkatalog geht grundsätzlich von der fahrlässigen Variante aus. Wird einem Betroffenen hingegen Vorsatz vorgehalten, wird es wesentlich schwieriger zu erreichen, dass vom Fahrverbot abgesehen wird.

Außerdem ist in Fällen von Fahrlässigkeit das Bußgeld deutlich geringer (außer bei Drogen- und Trunkenheitsfahrten). Das Gericht darf auch, wenn es vom Fahrverbot absieht oder die Regelgeldbuße erhöht, aufgrund von Voreinträgen nicht über gewisse Bußgeldgrenzen hinausgehen, während bei der Annahme von Vorsatz eine Verdopplung der jeweils verwirklichten Bußgeldsätze zulässig und üblich ist.

Gründe für die Annahme von Vorsatz

Der Vorwurf einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung kann sich dabei auch aus einem Geständnis des Betroffenen ergeben. Daraus folgt der stetige Rat des Anwalts, im Ermittlungsverfahren im Zweifel immer vom Schweigerecht, das dem Betroffenen zusteht, Gebrauch zu machen.

Dass eine vorsätzliche Tat anzunehmen ist, kann sich aber auch aufgrund eines massiven Verstoßes gegen die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit oder aufgrund der Gesamtkonstellation ergeben - zum Beispiel bei mehreren geringen Geschwindigkeitsverstößen, die in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang an aufeinanderfolgenden Messstellen begangen wurden.

Es entspricht gesicherter Rechtsprechung, dem Betroffenen dann eine vorsätzliche Tatbegehung zu unterstellen, wenn es sich um eine massive Geschwindigkeitsüberschreitung handelt. Eine solche Verurteilung bedarf aber in den meisten Fällen zuvor eines rechtlichen Hinweises durch das Gericht gemäß § 265 StPO, spätestens in der Hauptverhandlung.

Die Hinweispflicht besteht dann, wenn dem ursprünglichen Bußgeldbescheid (was der Regelfall sein dürfte) nur ein Fahrlässigkeitsvorwurf zugrunde lag. Erfolgt ein solcher Hinweis erst im gerichtlichen Hauptverhandlungstermin (was ebenfalls sehr häufig der Fall ist), sollte der Betroffene respektive dessen Verteidiger ernsthaft darüber nachdenken, wie das weitere prozessuale Verhalten aussehen soll. Im Zweifel hilft zunächst ein Unterbrechungsantrag für den laufenden Verhandlungstermin, um das weitere Vorgehen zu besprechen: notfalls den Einspruch mit erforderlicher Zustimmung des Gerichts zurückzunehmen.

Das Gericht darf einem Verkehrssünder auch nicht allein deshalb eine vorsätzliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit unterstellen, weil dieser in der Vergangenheit schon mehrfach Geschwindigkeitsverstöße begangen hat. Für eine Vorsatz-Verurteilung ist es erforderlich, zumindest ergänzende Feststellungen zur Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung zu machen. Hinzu kommt, dass sich das Gericht im Detail mit den jeweils zu prüfenden kognitiven und voluntativen Vorsatzelementen (Wissen und Wollen des Täters) auseinandersetzen muss. Der Jurist spricht hier von der inneren Tatseite.

Tempo-Limit bekannt?

Für den Betroffenen bedeutet dies: Aus den Urteilsgründen muss sich zweifelsfrei ergeben, dass der Betroffene die Geschwindigkeitsbeschränkung gekannt und sie bewusst überschritten hat. Erforderlich sind dafür seitens des Richters zum Beispiel Feststellungen zum Anlass der Fahrt, der beabsichtigten Fahrtstrecke, zur Ortskunde, zu Fahrbahnbeschaffenheiten und dem Streckenverlauf, zu Witterungs- und Sichtverhältnissen sowie zur konkreten Verkehrszeichenbeschilderung.

Ein herausragendes Indiz ist die Örtlichkeit des Verstoßes und die dort gesetzlich festgelegte Höchstgeschwindigkeit, also 50 km/h innerorts oder 100 km/h außerorts. So hat das OLG Bamberg (DAR 2006, 464) ausgeführt, jeder Kraftfahrer wisse, dass innerorts nicht schneller als 50 km/h gefahren werden darf. Daher rechtfertige schon eine Überschreitung von 31 km/h (62 Prozent) die Verurteilung wegen Vorsatzes. Auch der BGH hatte bereits 1997 (NZV 1997, 529) entschieden, dass sich bei einer erheblichen Überschreitung der allgemein gültigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h außerorts um 50 km/h (50 Prozent) eine Verurteilung wegen Vorsatzes aufdränge.

Vorsatz oder Fahrlässigkeit?

Dennoch ist es in der Praxis oft schwierig und aufwändig festzustellen, ob der Geschwindigkeitsverstoß vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde. Einige Bußgeldbehörden machen es sich mitunter sehr einfach und stellen lediglich auf die tatsächlich festgestellte Geschwindigkeit ab. Andere Behörden wiederum gehen schon fast schematisch nur von Fahrlässigkeit aus.

In der letzten Zeit stellen Gerichte dagegen überwiegend klar, dass die Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung allein eine vorsätzliche Begehungsweise noch nicht begründet. Erst aus dem Gesamtbild der Umstände des Einzelfalles und der örtlichen Gegebenheiten lassen sich Rückschlüsse ziehen, ob Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorlag.

Betrachtet man allein die prozentuale Überschreitung, so überrascht ein Beschluss des OLG Jena aus dem Jahr 2008 (DAR 2008, 35): Der Betroffene hatte hier die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 18,75 bis 23,75 Prozent überschritten. Da jedoch im Rennsteig-Tunnel wiederholt auf die Höchstgeschwindigkeit sowie auf Radarkontrollen hingewiesen wird und die festgestellten mehrfachen Geschwindigkeitsüberschreitungen des Betroffenen fast konstant waren, nahm das Gericht an, dass diese vorsätzlich begangen wurden. Dabei führte das Gericht aus, dass in Tunneln stets Geschwindigkeitsbeschränkungen gelten und hierüber allgemein Kenntnis bestünde. Eine schlicht abwegige Urteilsbegründung, würde diese doch bei konsequenter Anwendung bedeuten, dass bei entsprechend vorhandener Beschilderung jeder Verkehrsverstoß als vorsätzlich zu werten wäre.

Neuere Rechtsprechung

Beispiele aus der neueren Rechtsprechung sind daher schon eher geeignet, eine grundsätzliche Richtung vorzugeben:

- Vorsatz bei Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um mehr als 100 Prozent. Sofern der Verstoß zum Beispiel in einem erkennbaren Baustellenbereich erfolgt, kommt ein versehentliches Übersehen der Geschwindigkeitsbegrenzung nicht in Betracht.

- Vorsatz bei Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h auf einer Bundesstraße um 57 km/h. Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung dieser Größenordnung ist bereits allein aufgrund des für den Fahrer erkennbaren optischen Eindrucks von der Umgebung während der Fahrt ausgeschlossen, dass er dies nicht bemerkt. Dies gilt erst recht, wenn zudem Feststellungen zu etwaigen erheblichen Fahrgeräuschen getroffen wurden.

- Vorsatz bei mehreren Verstößen in kurzer Zeit trotz ausreichender Beschilderung auch bei jeweils geringen Geschwindigkeitsüberschreitungen, etwa zwischen "nur" 13 und 19 km/h.

Vorsatz bei geringen Überschreitungen

Nach dem zuvor Gesagten ist in der Rechtsprechung die Tendenz zu erkennen, dass bei zunehmend niedrigeren prozentualen Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit bereits von einer vorsätzlichen Begehung ausgegangen wird.

Einen anderen Weg geht jedoch das OLG Düsseldorf in seinem Beschluss vom 8. Januar 2016 (DAR 2014, 149). Es vertritt die Auffassung, dass auch bei einer Überschreitung innerorts von 100 Prozent, ohne dass weitere Indizien hinzutreten, kein Rückschluss auf eine Vorsatzfahrt möglich ist.

Ähnlich sieht dies auch das OLG Brandenburg im Beschluss vom 17. Juni 2014 (VRS 2014, 41). Bei einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf einer Bundesstraße um 34 km/h könne nicht in jedem Fall allein aus dem Ausmaß der Überschreitung auf ein vorsätzliches Handeln geschlossen werden.

Zwei für Autofahrer wichtige Urteile: Damit sollen nicht etwa rücksichtslose Raser unterstützt werden. Vielmehr soll sichergestellt werden, dass Einzelfälle so beurteilt werden, wie es das Gesetz vorschreibt - im Wege einer umfassenden Beurteilung aller Besonderheiten des Einzelfalles und nicht nur schematisch nach der festgestellten prozentualen Überschreitung. Das erkennende Gericht hat umfassend zu prüfen und dies auch in den Entscheidungsgründen niederzulegen und damit zu dokumentieren.

Diese erfreuliche Tendenz wurde aber fast zeitgleich wieder "umgedreht". Das OLG Hamm hat mit Beschluss vom 10. Mai 2016 (DAR 2016, 397) entschieden, dass bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts von 28 km/h bereits von Vorsatz ausgegangen werden kann, weshalb die Regelgeldbuße des Bußgeldkatalogs keine Anwendung findet. Das Gericht geht davon aus, dass bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 40 Prozent regelmäßig Vorsatz anzunehmen ist, weil dem Betroffenen die erhebliche Überschreitung wegen der Fahrgeräusche und der vorüberziehenden Umgebung nicht verborgen bleiben könne.

Vielfältige Rechtsprechung

Man kann dies mit der Vielfältigkeit der Rechtsprechung und der Einzelfallgerechtigkeit erklären, aber auch als mangelnde Vorhersehbarkeit einer einheitlichen Rechtsprechung für den Bürger bezeichnen: andere Bundesländer, andere Gerichte, andere Urteile. Damit wird der bundesweit reisende Autofahrer allerdings zumindest verunsichert.

Umgekehrt gilt aber auch: Die bloße "Ausrede" des Fahrers, die Geschwindigkeitsregelung aufgrund einfacher Fahrlässigkeit übersehen zu haben, genügt dabei ebenso wenig wie schematische Begründungen des Gerichts. Vor einer Einlassung zur Sache sollte der Betroffene sachkundige Hilfe bei einem Rechtsanwalt seines Vertrauens suchen - insbesondere wenn ein Fahrverbot oder sogar der Verlust der Fahrerlaubnis zu befürchten ist.

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