Erstmals hat die FDP als kleinste Koalitionspartei etwas überraschend das größte Ministerium jenseits des Wirtschaftsministeriums für den Klimaschutz übernommen. So sind Verhandlungen. Aber was ist mit den Handlungen? Bei allen politischen Kompromissen brauchen wir planetare Konkretionen: Stehen nun alle Zeichen der neuen, digitalen, klimaneutralen sowie auch der freiheitlichsten Mobilität, also die Zweirad- wie Fußmobilität, auf Grün?
Live aus dem Limit (Berlin-Mitte)
Berlin-Mitte ist der Bezirk der Bundespolitik und der mit der geringsten Autobesitzquote Deutschlands. Das liegt nicht am Bundestag und seiner von der Bundeswehr betriebenen Fahrbereitschaft deutscher Kfz-Hersteller. Es liegt eher an fortwährenden Demonstrationen auch gegen die Klima- und Verkehrspolitik, bei denen man selbst als Fußgehender und Radfahrender gerade noch so durchkommt. Aber darum geht es ja meist doch bei Mobilität - ums Durch- und Ankommen.
"Traffic Cem", wie viele Sympathisanten wie Kritiker des neuen Bundeslandwirtschaftsministers Cem Özdemir gern nennen, kam an. Nur nicht als Verkehrsminister. Die Verkehrspolitik ist nun nicht grün, die eFuels wieder drin, die Pendlerpauschale wieder hoch und das Tempo auf Autobahnen ohne Limit. Und am Limit ist auch der Koalitionsvertrag nicht, so ambitionslos wie die Kritiken durchgehend lauteten. Mit einer Ausnahme: "Im Koalitionsvertrag erkenne ich nicht das Bemühen, die deutsche Autoindustrie zu schwächen", so Hildegard Müller, Präsidentin des VDA, in der FAZ im Dezember 2021.
Die Stärkung des Radverkehrs war dann doch sehr limitiert - 420 Zeichen, das ist ein Twitter-Tweet im Vergleich zur langen Auto-Biografie im Koalitionsvertrag. Und das wurde besonders dann offensichtlich, als das von Bicicli stets gut gewartete Rad von Cem Özdemir ein Meme in den Social Media wurde. Warum? Weil er die ganzen 1,8 Kilometer vom Bundestag zum Bundespräsidialamt bei seiner Ernennung aus Zeitgründen radelte - und auch noch am Stück. Der Verkehrsminister Volker Wissing fuhr mit dem Auto.
Die gelbe Handschrift
Der damalige CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer gratulierte für Kritiker vernichtend: "Schön, dass die Ampel meine Arbeit der letzten Jahre fortsetzt." Die dann folgenden Aktivitäten und Interviews von Minister Wissing ließen schnell die neuen Limits erkennen: "Nicht immer nur Druck, Druck, Druck", wie er sich in der FAZ Ende Februar 2022 zitieren ließ. Das ist insofern überraschend, als nach dem deutschen Klimagesetz die Emissionen im Verkehrssektor bis 2030 fast halbiert werden müssen. Was dann kam, war die Verbreiterung von Autobahnen A1 und A3 entgegen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis, die Purzelbäume bei eFuels und den Plug-in-Hybriden, die energiepreisbedingte Erhöhung der eigentlich abzuschaffenden Pendlerpauschale, die Abschwächungen der Klimaziele von Neuwagen und, und, und ... Die Handschrift zittert zwischen Industrie-, Arbeitsmarkt-, Energie-, Digital- und der Klimapolitik.
Die einzelnen Vorhaben im Detail
(in klimaschützender Reihenfolge ohne Schiff- und Flugverkehr)
-> Radverkehr
Einschätzung: Der zivilgesellschaftlich vor der Wahl erneuerte Nationale Radverkehrsplan wird "fortgeschrieben". Bestechenderweise schreibt das Bundesamt für Güterverkehr das Fahrradportal fort, das bisher kompetent vom Deutschen Institut für Urbanistik betrieben wurde. Das so neu bezeichnete "Mobilitätsforum Bund" soll unter mobilitaetsforum.bund.de seit letztem Herbst eingerichtet werden und der "aktiven Förderung des Radverkehrs und anderer Formen einer aktiven, nachhaltigen, inter- und multimodalen Mobilität" dienen. Die Beschleunigung von Genehmigung und Bau von Radschnellwegen, die Unsicherheit der meisten Fahrradstraßen, der geschwächte Fußverkehr und die zugeparkten Gehsteige, der neue, weit unter dem europäischen Standard zurückbleibende Bußgeldkatalog, die infrastrukturelle Ertüchtigung des ländlichen Raums von Dorf zu Dorf und die Definition eines Radwegenetzes sind nur eine Auswahl von überraschenden Auslassungen der Verkehrsträger, die im Umweltverbund des ÖPNV die Klimaziele erreichen sollen.
-> ÖPNV, neue Mobilitätsangebote
Einschätzung: Die Elektrifizierung, attraktivere Waggondesigns, datenbasierter Takt sowie multimodale Mobilitätsangebote an Bahnhöfen sind die investiven Hebel für die postpandemische Klimaneutralisierung der Mobilität. Eltern, intermodale Fahrradfahrende und Rollator-Nutzende wundern sich noch jeden Tag, wie unterirdisch es in deutschen Unterführungen zugeht - wenn man in der Schweiz oder Österreich war. Die Berliner Verkehrsbetriebe versuchen es witzig, dass man endlich wieder die Spargelsaison riecht ... Ist aber nicht witzig! Wir brauchen hier Ernsthaftigkeit für wirkliche Investitionen und die Ermöglichung von Rad-Fuß-ÖPNV-Pendlerverkehre.
-> Verkehrssicherheit im Straßenverkehrsgesetz und StVO
Einschätzung: Die Entscheidungsspielräume der Kommunen bestehen derzeit gerade nicht, wie wir in der breiten Initiative von weit über 60 Städten zum Jahresbeginn für die 30er-Zone als Regelgeschwindigkeit forderten. Das beruhigt und beschleunigt alle - nachgewiesenermaßen. Aber der Bund bleibt zuständig und Kinder, Ältere und Frauen wie auch Männer bleiben unruhig.
-> Deutschland als Automobilstandort: gestern - heute - morgen
Einschätzung: Mindestens 15 Millionen E-Autos hierzulande peilt die Ampel-Koalition an - und der Verkehrsminister rechnet und reguliert täglich neu, weil es so gar nicht realistisch erscheint. Die Energiewende wird nach der verteidigungs- und energiepolitischen Kriegssituation entscheidender sein als die Fahrzeuge und deren recyclingfähige Batterien, Ladesäulen und Schnellladepunkte. Dass die Regierung hier auf "die Mobilisierung privater Investitionen" setzt, ist mehr als nachvollziehbar: Wir sind ja eben nicht im realen Kommunismus, auch wenn wir von dort das sich nun verteuernde Benzin und Gas bezogen haben.
-> Das Mobilitätsdatengesetz sowie der Zugang von Verkehrsdaten
Einschätzung: Das ist das Bewegendste und Klügste, was in der Koalitionsvereinbarung steht, vermutlich weil die wenigsten verstanden haben, was es bedeutet: eine Revolution, mit Blick auf diese Punkte:
- 1. Eine Data Governance jenseits von Google Maps, Uber, Amazon oder sonstigen Plattformen, die mit Bewegungsdaten sorgsam umgeht.
- 2. Eine Logik von Mobilitätsstationen statt Mobilitätsmittel-Eigentum.
- 3. Eine intermodale Logik, die Abstand von dem Glauben nimmt, dass Mobilität nur gelingt, wenn man aus einem Carport direkt in eine trockene Tiefgarage fährt, ohne das Verkehrsmittel zu wechseln.
Wake-Up-Call: Der Mobilitäts-Standort braucht Bewegung
- 1. Mehr "Selbst-Bewegung" - mit Fokus auf Fuß- und Zweirad-Verkehre.
- 2. Mehr Infrastruktur in klarer Trennung von privater Ladeinfrastruktur und der öffentlichen Flächengerechtigkeit für die Verkehrssicherheit.
- 3. Mehr "Soziale Bewegungen" für eine Teilhabe-Gerechtigkeit - und dies mit Blick auf Geschlechter-, Alters- und Einkommensgerechtigkeit.
Und das alles auf dem Platz, also einem beweglicheren kommunalen Platz, wo die Bundesregierung vielleicht am Limit sein sollte und die Kompetenzen dorthin verteilt, wo sie sind und eingesetzt werden müssen. Und allen anderen wünschen wir gute Fahrt, nicht nur Cem Özdemir, sondern auch den Autofahrenden, die dann wieder besser durch- und ankommen, wenn der ÖPNV, der Rad- und Fußverkehr und eben auch die Mobilitätsdienste besser funktionieren.
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- Ausgabe 04/2022 S.20 (168.3 KB, PDF)
Zur Person
Prof. Dr. Stephan A. Jansen ist Geschäftsführer der "Gesellschaft für Urbane Mobilität BICICLI" und deren Mobilitätskonzeptberatung "MOND - New Mobility Designs". Mit dem Geschäftsbereich BICICLI Cycling Solutions sind sie Pionier und Full-Service-Spezialist für Fahrradflotten-, Dienstrad- sowie Infrastrukturlösungen (u.a. Preisträger des Deutschen Fahrradpreises 2020, des Innovationspreises des Deutschen Handels sowie des Future Mobility Summits vom Tagesspiegel). Er ist weiterhin Professor für Urban Innovation - Mobility, Health, Digitization an der Universität der Künste, Berlin und langjähriger wissenschaftlicher Berater der Bundesregierung (u. a. Mitglied des Innovationsdialogs der Bundeskanzlerin, der Forschungs-union, Spitzencluster Initiative etc.). Jansen ist Gründungspräsident der Zeppelin Universität, seit 1999 Gastforscher an der Stanford University und vielfach für seine Arbeit und Publikationen ausgezeichnet - auch international im globalen Ranking der "Thinkers50".