Von Peter Maahn
Elektronik und Digitalisierung entwickeln sich fast im Halbjahrestakt weiter. Da der aktuelle VW Tiguan inzwischen vier Jahre auf dem Blech hat, gilt sein virtuelles Innenleben in den Augen der Ingenieure und auch Kunden als überholt. Doch während unsere Smartphones fast monatlich zum Update aufgefordert werden, ist das bei einem Auto ungleich schwieriger. Noch dazu bei einem Erfolgsmodell, von dem die Fließbänder in vier Fabriken allein im vergangenen Jahr im Schnitt alle 35 Sekunden ein neues Auto in die Welt entsandten. Für wichtige Neuerungen müssen die Entwickler lange ungeduldig mit den Füßen scharren und auf das planmäßige Facelift warten. Und das ist beim Tiguan jetzt da.
Ralf Brandstätter, neuer Chef der größten Konzernmarke, nennt das Motto: "Wir sind den nächsten Schritt gegangen, indem wir den neuen Tiguan elektrisieren, digitalisieren und vernetzen. Damit ist das Kompakt-SUV für die Herausforderungen unserer Zeit gerüstet." Bevor die Zündschlüssel für den Neuling übergeben werden, gehen Designer, Motorenprofis und Elektroniker in die Details ihrer Mühen. Die Blechkünstler sprechen von der neuen Frontpartie, deren lächelnder Kühlergrill jetzt von einer vierten seitlich angeschrägten Lamelle ergänzt ist und so an den großen Touareg oder das amerikanische VW-Modell Atlas anknüpft. Ebenso gelungen das Tagfahrlicht, das die vier LED-Augen jetzt auch unten umrundet. Am Heck grüßt nun wie beim Golf ein mittiger Modell-Schriftzug unter dem VW-Logo.
Dann die Motoren-Tüftler, die sich den im Tiguan so beliebten Diesel und dessen berüchtigte Stickoxide vorgeknöpft haben. Dank "Twindosing" sollen diese Gase beim neuen TDI-Motor um bis zu 85 Prozent reduziert werden. Dabei tritt ein zweiter Katalysator im Unterboden in Aktion, der all den Stickoxiden den Garaus macht, die sein näher am Motor montierter "Kollege" noch durchgelassen hat. Sie werden in Wasser und harmlosen Stickstoff umgewandelt. Weitere Neuheit im Motorenraum und drumherum: Erstmals wird es bald es einen Plug-In-Hybrid geben, der neben einem 1,4-Liter-Benziner (110 kW / 150 PS) einen Elektromotor mit 85 kW / 115 PS nutzt. 50 Kilometer weit soll das Duo mit zusammen 180 kW / 245 PS den Tiguan rein elektrisch bewegen können.
Schluss mit dem Strippensalat
Die letzten Infos sind den Elektronikern vorbehalten. Wie im Golf hat die digitale Revolution im Innenraum auch den Tiguan erfasst. Neue Steuerung von Heizung und Klima über Regler mit Berührungsflächen, die auf Druck oder auf Wischgesten reagieren. Ähnlich funktionieren auch empfindsame Vierecke in Griffnähe am Lenkrad. Und dann natürlich das Kürzel MIB 3. Es steht für das derzeit beste Infotainment-System von VW. Es dient der Vernetzung mit der digitalen Außenwelt und ist dank eigener SIM-Karte vom Smartphone unabhängig und somit immer online. Außer in Funklöchern natürlich. Aber die soll es ja bald nicht mehr geben. Praktisch: Zahlreiche Dienste wie Apple Carplay oder Android Auto laufen jetzt auch via Bluetooth, ohne dass wie bisher das Smartphone per Kabel verbunden sein muss.
VW Tiguan (2021)
BildergalerieUnser Test-Tiguan gibt sich unter der Haube eher bescheiden. Ein 1,5-Liter-Motor übernimmt den Antrieb, schickt 110 kW / 150 PS an die Vorderachse. Vielleicht wird er ja zum Primus der Tiguan-Familie, wenn die Zurückhaltung der Diesel-Käufer anhält. Schon nach den ersten Kilometern wird klar, dass sich der Neue fährt wie sein Halbbruder aus den ersten vier Jahren der aktuellen Tiguan-Generation. Alles passt, ob die vertrauten Instrumente, das gut in der Hand liegende Lenkrad, die Übersichtlichkeit eines SUV. Dieses "Daheim"-Gefühl in einem Tiguan ist sicher eines seiner Erfolgsgeheimnisse.
Der vergleichsweise kleine Motor kann zwar mit der Durchzugskraft der Diesel-Kollegen nicht mithalten, bringt aber genügend Vortrieb im Alltag und kann durchaus auch im Fernverkehr überzeugen. Wer schnell mal über die Landstraße zur ländlichen Verwandtschaft unterwegs ist, freut sich über das sichere Fahrverhalten dank gewohnt präziser Lenkung, kann sich auf seine Bremsen verlassen und natürlich auf die vielen Assistenzsysteme, sofern er sie zuvor in der Preisliste angestrichen hat. Denn auch bei der Neuauflage des Tiguan sind die meisten technischen Leckerbissen nur gegen Aufpreis an Bord. Dabei kostet dieser Fünftürer inklusive der nach wie vor überzeugenden Siebengang-Doppelkupplung gut 27.600 Euro netto.
Gab es also beim Fahrgefühl keinen Nachholbedarf, bleibt als wichtigste Neuerung im Tiguan eben jener Fortschritt bei Elektronik und Vernetzung. So übernimmt das sogenannte "Travel-Assist" jetzt zwischen Null und 210 km/h das Lenken, Beschleunigen und Bremsen, arbeitet dabei mit Abstands-Tempomat und Spurhalter zusammen. Der Fahrer darf das Lenkrad allerdings nur kurz loslassen. Das Radaraugen-System greift jetzt auch auf Kamera und Navi-Daten zurück, erkennt Temposchilder, Kreuzungen oder Ortseinfahrten und passt auf Wunsch das Tempo automatisch an.
Neu im Angebot ist auch das derzeit beste Lichtsystem, das bereits Touareg, Passat oder Golf erleuchtet. Die Matrix-Technik macht mit zweimal 24 LED die Nacht zum Tag, Entgegenkommer oder andere Lichtquellen werden durch gezieltes Dimmen der einzelnen LED-Leuchten vor Blendung geschützt. Logisch, dass auch die hinteren Blinker jetzt optisch in die Richtung "wischen", in die der Fahrer gleich abbiegen will.
In Summe machen all die Verbesserungen im Detail den neuen Tiguan auch weiterhin zu einem der wichtigsten Mitspieler in der SUV-Liga, auch wenn er wegen Corona, Klimadiskussion und Konkurrenz durch die kleineren Geschwister seine Traumzahlen von einst kaum noch erreichen wird. Dabei folgen zwei Leckerbissen schon in Kürze. Der Plug-in-Hybrid könnte verunsicherte Diesel-Fans anlocken. Und dann steht auch noch der bullige Tiguan R in den Startlöchern: Sein Zweiliter-Turbo befördert 235 kW / 320 PS an alle vier Räder und glänzt mit dabei mit aufwendiger elektronischer Regelung der Kraftverteilung. Ein echter Sportler im SUV-Kleid.