Von Peter Maahn/sp-x
Die Yurikamone-Linie braucht keinen Fahrer, das Führerhaus dieser Tokioter U-Bahn bleibt leer. Computer übernehmen die Steuerung, beschleunigen den Triebwagen samt seiner vier Waggons und bringen ihn zentimetergenau an der nächsten Station wieder zum Stehen. Im Bahnhof Kokusai-tenjijo einige Schritte vom Haupteingang zur Tokyo Motor Show entfernt, entriegelt der elektronische Fahrdienstleiter alle Türen, das dicht gedrängte Menschen-Knäuel entwirrt sich auf dem Bahnsteig. Autonomes Fahren in einer Mega-City, noch dazu in einer der größten, ist zumindest auf Schienen keine Zukunftsmusik mehr. Ganz im Gegensatz zum neuesten "Traumschiff" von Mercedes, das in einer der beiden gigantischen Messehallen auf die Besucher wartet. Der auf Wunsch fahrerlose "Vision Tokyo" ist zwar der heutigen Welt weit entrückt, aber dennoch ein Hingucker.
Mercedes-Chefdesigner Gorden Wagener hat seinen Mitstreitern, die auf weltweit fünf Studios verteilt sind, freie Hand gelassen. "Der Entwurf, der es jetzt bis auf die Tokioter Messe geschafft hat, stammt von unser Truppe aus Sunnyvale in Kalifornien", berichtet er. "Alles recht junge Leute, die sich da Gedanken um die Zukunft machen sollten. Schließlich gehört diese Zukunft ja auch der Generation Z und wird deren Leben bestimmen". So wird der Teil der Menschheit genannt, der nach 1995 geboren und mit den neuen elektronischen Medien aufgewachsen ist. "Für diese Generation wird das Auto nicht nur ein Fortbewegungsmittel sein, sondern Lebensraum, ein Ort zur Entspannung und auch der Ruhe im Tosen einer Megacity", erklärt Wagener die Schöpfung seiner jungen Wilden am Reißbrett.
Silberfisch mit Powerboat-Anleihen
Das fängt schon beim äußeren Auftritt an, der laut Wagener "hot und cool" gleichzeitig sein soll. Dabei rollt hier auf den ersten Blick ein Auto mit Steilheck, ganz im Stil einer heutigen Kombilimousine. Statt einer Windschutzscheibe hat die Studie eine durchgehende Glasfläche, ähnlich wie das Cockpit eines Powerboats. Dann aber fällt der wuchtige Grill auf, in dessen Mitte zwar der vertraute "Stern" glänzt, der aber genügend Platz für allerlei Lichtspiele in LED-Technik lässt. Läuft heiße Musik im Innenraum, wird das durch hüpfende rote Lichtbalken nach außen kundgetan. Ist der Vision Tokyo rein elektrisch und obendrein noch fahrerlos unterwegs, wechselt die Farbe in ein kräftiges Blau. Nett, aber eben doch eine Spielerei ohne tieferen Sinn.
Die "coole" Seite des Vision Tokyo ist dann die Flanke. Er wirkt wie ein Lieferwagen, der direkt aus dem Bestseller "Zurück in die Zukunft" von der Leinwand auf die Straße geflutscht ist. Denn die Seitenscheiben glänzen in der silbernen Wagenfarbe, die per Siebdruckverfahren aufgetragen wurde. Alles wirkt so glatt, als hätten die Designer ihrer Schöpfung eine Delphinhaut übergestülpt. Von außen bleibt so das Treiben der "Generation Z" den Passanten verborgen, umgekehrt haben die Insassen einen ungehinderten Rundumblick gen Außenwelt. Die Heckscheibe ist ringförmig mit LED-Würfeln umrandet, bietet wieder Raum für eine Art Bildschirm für Nachrichten nach draußen.
Ohne Gewirr von Kanten und Karosserielinien
Besonders wichtig für Gorden Wagener: "Die Studie ist ein Beispiel für eine Formensprache, die einen Bogen zu unseren heutigen Serienmodellen schlägt". Der Designchef mit Professorentitel nennt die neue Nüchternheit "klar, sauber und ohne das heute übliche Gewirr von Kanten und Karosserielinien". Das gilt auch für den Innenraum. Eine einzige, dafür extrabreite Tür, dahinter eine halbkreisförmige Couch. Viele Farbenspiele für die Augen im Innenraum, im Zentrum sogar eine Holographie-Animation, die zum Beispiel Informationen oder auch Spiele in 3-D-Anmutung ermöglicht. Fahrersitz und Lenkrad werden nur dann sichtbar, wenn der Computer die Verantwortung für den Vision Tokyo an einen Menschen zurückgibt. Wagener: "Wir sind überzeugt, dass kommende Generationen den Spaß am Lenken eines Autos nicht verlieren werden, wenn wir auch in autonomen Fahrzeugen immer die Option des Selbstfahrens bieten".
Das Meiste am Innenleben des Vision Tokyo ist ebenfalls noch Schnee von morgen: Für den Antrieb soll eine Wasserstoff-Brennstoffzelle sorgen, die die Elektrizität an Bord produziert. Die Hochvoltbatterie soll für 190 Kilometer reinen E-Betrieb reichen, der Vorrat im Wasserstofftank für weitere 790 Kilometer. Darüber hinaus soll die Batterie auch zu Hause per Induktion aufgeladen werden können. Nach der Messe wird der Vision Tokyo ein paar Jahre lang auf Tournee gehen und weltweit die Ideen der Mercedes-Designer verbreiten. Vielleicht kommt er ja dann in 20 bis 30 Jahren nochmal aus dem Museum ins Rampenlicht: als Geburtshelfer für das erste Serienauto seiner Art.